12. Januar 2012

"Ich wollte nicht, dass mich jemand sieht!"

In Indien leiden geheilte Lepra-Patienten noch immer unter Deformationen und Behinderungen.

Es gibt nicht viel, was Dr. Rajendran noch überraschen kann. Zu viel hat er als Mediziner gesehen und erlebt. „Aber so einen riesigen Lepraflecken habe ich bei einem Patienten in den letzten drei Jahrzehnten nicht entdeckt."

Über den gesamten Brust- und Bauchbereich ist die Haut des 37-jährigen Vayjpura unnatürlich aufgehellt. Und vollkommen gefühllos. Um seine Arbeit als Lastwagenfahrer nicht zu verlieren, hatte er die Symptome seiner Erkrankung verborgen. Er ignorierte den Muskelschwund und das schleichende Taubheitsgefühl seiner rechten Körperhälfte. Erst als er nach der Lähmung der Gesichtsnerven sein rechtes Auge kaum noch schließen konnte, als ihm beim Trinken aus dem Becher das Wasser aus dem Mund rann, suchte Vayjpura den Chefarzt Rajendran auf. „Sehr spät, aber nicht zu spät“, meint dieser zuversichtlich. Nach seiner Medikamententherapie könne er wieder hinter dem Lenkrad sitzen.

Das Sagayamatha Medical Center liegt in Pullambadi im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu. Seit den frühen siebziger Jahren bereits wird die Einrichtung von der DAHW Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe unterstützt. Es war die Zeit als sich 15 von 1.000 Personen, in manchen Dörfern sogar dreimal so viele Menschen, mit Lepra-Bakterien infizierten. Noch heute zeugen die Gräber auf dem spitaleigenen Friedhof von dem Schrecken, den die Krankheit verbreitete. Weil man sie in ihren Heimatdörfern nicht beerdigen wollte, fanden verstorbene Patienten hier ihre letzte Ruhe. Und heute? „Wir können die Lepra heilen“, betont Dr. Rajendran, „doch die Deformationen der Patienten bleiben. Noch immer verlieren viele Landarbeiter ihre Gliedmaßen an Händen und Füßen."

Vor zwei Tagen erst wurde der alte Thiru nach Pullambadi gebracht. In seinem Dorf hatte er sich abgesondert. Bis sein Bruder ihn in einem Schuppen fand, im Fieberkoma, verschmutzt und mit klaffenden Schnittwunden an den Füßen. Zwei Tage Pflege haben den verwahrlosten Greis verwandelt. Gebadet, rasiert, in frischen Kleidern und mit gesäuberten Wunden ist Thiru auf dem Weg der Genesung. Der Grund, warum er nicht selber Hilfe suchte, ist einfach: Scham. „Ich wollte nicht, dass mich jemand sieht!“

Von den vierzig Betten der Lepra-Abteilung des Medical Centers sind die meisten belegt. Manche Patienten bleiben Monate, manche nur ein paar Wochen, einige für immer. Nach der Regenzeit ist der Andrang besonders groß. „Wenn die Wege überschwemmt sind, ziehen die Behinderten ihre Sandalen aus, um sie nicht zu verlieren“, erklärt Rajendran. „Im Schlamm treten sie in Dornen oder spitze Steine und spüren nicht, wenn sie ihre gefühllosen Füße verletzen. Gerade in den Dörfern, wo hygienische Einrichtungen fehlen, breiten sich Entzündungen aus, die monatelang behandelt werden müssen."

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Dass die Stigmatisierung der Lepra-Kranken nicht der Vergangenheit angehört, weiß der Klinik-Direktor und Priester Thangasamy aus bitterer Erfahrung. „Immer wieder werden alte und behinderte Menschen abgeschoben. Bei Familienfeiern, etwa bei großen Hochzeiten, wollen viele Angehörige ihre Lepra-Kranken nicht in ihrer Mitte wissen.“ Der Katholik Thangasamy ist ebenso für den guten Geist im Sagayamatha verantwortlich wie das fürsorgliche Personal und die freundlichen Krankenschwestern, die hier ausgebildet werden.

„Für mich ist das hier eine Oase“, schwärmt Vijaya Ragavan. Der 71-jährige Hindu hat eine wahre Odyssee durch indische Leprakliniken hinter sich. „Nirgends wurde ich so gut medizinisch behandelt und als Mitmensch gesehen wie hier. Am liebsten würde ich für den Rest meines Lebens bleiben. Wo soll ich sonst auch hin?“ Auch der blinde Siebzigjährige, der auf der Männerstation der Musik aus einem knatternden Transistorradio lauscht, hatte keinen Ort. Rengasamy erkrankte vor zwanzig Jahren an Lepra. Dann verlor er sein Augenlicht, seine Zehen und Finger, und niemand war für ihn da. Keine Frau, keine Kinder, keine Freunde. Erst in Pullambadi fand er ein Zuhause. Manchmal legt er sein krächzendes Radio beiseite und singt. Sein monotoner, zugleich bewegender Gesang klingt wie eine Litanei. Die Texte hat er selber verfasst. In seinen Liedern erzählt der Alte von Wundern, von der Heilung der Blinden und Lahmen. Und davon, dass Jesus nie einen Lepra-Kranken von sich wies.


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