07. Juli 2010

Nigeria - Zurück ins Leben

Mikrokredite sichern in Nigeria das täglich Überleben

„Ich fühle mich wie ein Leprakranker“, lautet eine Redewendung von Menschen, die ausgegrenzt werden. So unglücklich dieser Vergleich auch ist, er trifft leider zu – auch heute noch, in unserer scheinbar so aufgeklärten Welt: Leprapatienten werden immer noch ausgegrenzt, selbst von der eigenen Familie ausgestoßen. Die Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe (DAHW) gibt den Betroffenen die Möglichkeit, sich eine neue Existenz aufzubauen – mitten unter den Menschen, die sie einst ausgestoßen hatten.


(Iberokodo, Januar 2009). Vorsichtig hebt Joyce K. eine Flasche Cola aus der Kühltruhe. Nicht, weil diese so zerbrechlich ist, sondern weil es für die 31-Jährige schwierig ist, die kalte und feuchte Flasche überhaupt zu greifen. Ihre Finger sind verstümmelt zu unförmigen Stumpen, und Gefühl hat sie schon lange nicht mehr in ihren Händen – Folgen der Lepra, an der Joyce vor mehr als 15 Jahren erkrankt war.



Rund 1.000 Einwohner leben wie Joyce in Iberokodo – in 15 kleinen Siedlungen mit jeweils zehn bis 20 Hütten, durch Felder und Urwald getrennt voneinander. In diesem Dorf, rund 30 Km entfernt von der Provinzhauptstadt Abeokuta, lebt und arbeitet Joyce, hier hat sie ihre Kindheit verbracht und war acht Jahre lang ausgestoßen.



Am Rand von Iberokodo liegt ein kleines Hospital mit Lepradorf – einer Zufluchtsstätte für Patienten, die aus ihren Heimatdörfern vertrieben wurden, weil sie an Lepra erkrankt waren. Joyce erinnert sich noch gut an das Lepradorf aus ihrer Kindheit: man machte immer einen riesigen Bogen darum, ging große Umwege, nur um nicht in die Nähe der kranken Menschen zu kommen. Dass sie selbst mal dort Zuflucht finden würde, konnte sie sich damals nicht vorstellen.



Als sie 15 Jahre alt war, entdeckte sie einen Fleck auf ihrem Oberschenkel – seltsam hell und nach ein paar Monaten schon ohne Gefühl auf der Haut. Joyce ahnte damals schon, dass sie an Lepra erkrankt war, denn oft kamen Leprahelfer in ihre Schule und erzählten von diesen ersten Zeichen der Krankheit. Sie muss sich so schnell wie möglich behandeln lassen, aber was passiert dann, wie reagieren Familie und Freunde darauf, muss sie eventuell in das Lepradorf umziehen? Joyce wollte sich dies lieber gar nicht vorstellen und verschwieg diese Anzeichen.



Ein paar Jahre später wurden Hände und Füße völlig taub und gefühllos – Joyce entdeckte Wunden, die sie bei der eigentlichen Verletzung gar nicht bemerkt hatte. Die Wunden verheilten nicht, entzündeten sich sogar noch, also vertraute sie sich endlich ihrer Mutter an. Doch statt Unterstützung geschah nun, was sie immer schon befürchtet hatte: Ihr Onkel, bei dem sie mit ihrer Mutter seit dem frühen Tod des Vaters lebte, verwies sie aus seiner Hütte und gleichzeitig aus dem kleinen Dorf. Er schickte sie in das Lepradorf, in das er selbst noch nie einen Fuß gesetzt hatte.



Fast zwei Jahre dauerte die Heilung, doch die Verstümmelungen an Händen und Füßen waren schon zu weit fortgeschritten. „Besonders die Finger fehlen mir bei dieser Arbeit“, sagt Joyce und öffnet die Colaflasche so geschickt, als wolle sie ihre Worte selbst Lügen strafen. Der Vater ihrer Tochter Felicity hat sie wegen der verstümmelten Finger verlassen – zumindest hat er ihr dies so gesagt, als Joyce vor drei Jahren schwanger wurde und heiraten wollte.



Zu diesem Zeitpunkt hat Joyce bereits acht Jahre im Lepradorf gelebt, rund 800 Meter von ihrer Mutter entfernt, die sie in der ganzen Zeit nicht einmal gesehen hat. Doch nun will sie wieder zurück in ein normales Leben, sie will wieder selbst bestimmen können, wo sie wohnt und dass ihr Kind in einem ganz normalen Umfeld aufwächst.



Mit Kusimo Olukayode, dem Sozialarbeiter der DAHW, hat sie oft über ihre Möglichkeiten gesprochen: Was konnte sie schon machen mit ihren verstümmelten Händen, würden die Menschen „da draußen“ sie und ihr Geschäft akzeptieren? Joyce wollte es unbedingt wissen, trotz aller Zweifel.



Im kleinen Dorf ihrer Kindheit hat sie eine Hütte bezogen – gleich neben der ihrer Mutter. Kusimo hat die erste Aufregung geschlichtet und ihr einen kleinen Kredit der DAHW besorgt. Damit hat sie eine Kühltruhe angeschafft, einen Stromgenerator und die erste Ausstattung an Getränken: Cola, Wasser und Bier. Heute verkauft sie kein Bier mehr: „Die Männer werden schnell aggressiv, wenn sie getrunken haben“, sagt Joyce, während sie selbst ihr sauberes Wasser aus einer kleinen Plastiktüte trinkt.



In den Dörfern von Iberokodo gibt es weder Wasser- noch Stromleitungen. Frisches und sauberes, dazu noch gekühltes Wasser müsste sich also gut verkaufen lassen, dachte Joyce. Doch die Ablehnung gegen die „Leprafrau“ war trotz Kusimos Unterstützung groß in dem Dorf, in dem jeder ihre Geschichte kannte. Die Einnahmen reichten kaum zum Leben, vom Einkauf neuer Ware ganz zu schweigen.



Die rettende Idee kam Joyce bei einem Gespräch mit einem der wenigen Kunden, der in ein drei Kilometer entferntes Dorf lief, um sich dort ein Fußballspiel der nigerianischen Nationalmannschaft anzusehen. So weit der Weg zum nächsten Fernseher auch ist, die Begeisterung für diesen Sport entschädigt dafür.



„Ich habe überlegt, was Männer für ein Fußballspiel im TV alles auf sich nehmen“, sagt Joyce mit einem schelmischen Lächeln im Gesicht: „Warum sollten sie dafür nicht auch zu mir kommen?“ Vom Kredit war noch etwas Geld übrig, einen kleinen Zuschuss hat Kusimo noch gegeben, und schon ein paar Tage später stand ein alter Fernseher in der Hütte.



Schon beim ersten Spiel musste Joyce ihr Bett aus dem kleinen Raum tragen: „Das ganze Dorf hat sich vor meinem Fernseher versammelt, mein Wasser und meine Cola getrunken. Und viele kommen jetzt regelmäßig zu mir, nicht nur wenn es Fußball zu sehen gibt.“



Ihr Beispiel hat anderen Patienten Mut gemacht: Der Musiker Joseph B. hat bei einer Feier für Joyce gespielt und daraufhin den Mut gefasst, ebenfalls zurück in sein altes Dorf zu gehen. Sozialarbeiter Kusimo hat dem 68-Jährigen ebenfalls einen Mikrokredit vermittelt für die Musikanlage und ein altes Motorrad. Damit kann er zu den Festen auch in andere Dörfer fahren. Heute spielt er für jedes Fest in den Dörfern von Iberokodo – auch für die Nachbarn, die ihn vor über 20 Jahren in das Lepradorf geschickt hatten.



„Wir mussten selbst erst lernen, dass wir eigentlich nicht anders sind als vor unserer Erkrankung“, lautet das Fazit des Musikers: „Wenn die anderen Menschen dies auch bemerken, zum Beispiel wenn sie unsere Arbeit benötigen, dann leben wir wieder zusammen wie nach jeder anderen Krankheit auch.“



Joyce kann mittlerweile von ihrem kleinen Geschäft leben, hat den kleinen Kredit fast schon zurück gezahlt: „Wenn ich alles bezahlt habe, werde ich auch den Zuschuss zurück geben, oder ich werde einem anderen Leprapatienten einen Zuschuss für dessen Geschäft geben. Das bin ich den Menschen schuldig, die mir geholfen haben.“

von Jochen Hövekenmeier 


Alle Bilder: © dahw / Jochen Hövekenmeier


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