Informationen zum Krankheitsbild

In diesem Abschnitt gehen wir vor allem auf das Krankheitsbild der Lepra ein. Sie erfahren zunächst, welche Lepra-Typen man heute unterscheidet, anschließend gehen wir auf die körperlichen Auswirkungen ein, die diese schreckliche Krankheit mit sich bringt.

5.1 Klassifikation – Lepra ist nicht gleich Lepra.

Das Immunsystem eines mit dem Lepra-Erreger (Mycobacterium leprae) infizierten Menschen entscheidet, ob und wie sich die Infektion im Körper manifestiert. Je defizitärer, also instabiler, die zellvermittelte Immunkompetenz – das Abwehrsystem – ist, desto ungestörter können sich die Mykobakterien vermehren, wobei sie gleichzeitig eine frustrane und überschießende humorale und somit erfolglose Abwehrreaktion provozieren. Die Intensität der Krankheit und ihre klinische Manifestation beschreiben zwei Klassifikationen: die Klassifikation nach Ridley/Jopling, die die morphologischen Veränderungen untersucht. Und die Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation WHO, die die therapeutische Verwendbarkeit in den Vordergrund stellt und zwischen einer nicht ansteckenden und einer ansteckenden Krankheitsform unterscheidet:

Charakteristisch für die Tuberkuloide Lepra sind wenige, umschriebene und asymmetrisch verteilte Pigmentveränderungen der Haut mit begleitenden Sensibilitätsstörungen, lokaler Anhydrose (verminderte oder fehlende Schweißbildung) und der isolierten, deutlichen Auftreibung peripherer Nerven. Die Erkrankung ist häufig selbstlimitiert mit einer Neigung zur spontanen Remission. Das bedeutet, dass die Symptome zwar zurückgehen, ohne dass es zur Heilung der Krankheit gekommen ist. Mykobakterien sind selten nachweisbar.

Die Lepromatöse Lepra zeichnet sich durch zahlreiche und symmetrische Veränderungen an der Haut und den peripheren Nerven aus. Bakterien sind z. T. massenhaft nachzuweisen, der Verlauf der Infektion ist in der Regel progredient (fortschreitend). Die drei Übergangsformen BT, BB und BL decken Zwischenformen ab.

Die WHO (World Health Organisation) definiert PB Lepra (Paucibazilläre, bakterienarme Lepra) als Fälle mit bis zu fünf Hautläsionen und gleichzeitigen Sensibilitätsstörungen sowie Fälle des sensiblen oder motorischen Ausfalls von maximal einem peripheren Nerv.

Bei mehr Läsionen oder befallenen Nerven liegt MB Lepra (Multibazilläre, bakterienreiche Lepra) vor. Neuerdings wird eine Sonderform der PB Lepra mit nur einer Effloreszenz (Hautveränderung), die single skin lesion, abgegrenzt. Die bei Ridley/Jopling als Lepra indeterminata bezeichnete Frühform der Lepra lässt sich nicht in dieses Schema einordnen. Sie ist durch das Vorhandensein einer oder einiger häufig vorübergehenden Hautläsionen gekennzeichnet.

5.2 Nervale Affektionen – Befall der Nerven

"Akroneurotropismus" – so nennen einige Autoren ein für die Lepra charakteristisches Phänomen. Es meint den bevorzugten Befall der Akren (die Extremitäten-Enden) und der peripheren Nerven. Der Zusammenhang zwischen den hier obwaltenden niedrigeren Temperaturen und der zügigeren Reduplikation (Verdopplung) von M. leprae (Mycobacterium leprae) wurde bereits angesprochen. Den Pigmentveränderungen der Haut kommt vor allem eine diagnostische, weniger eine klinische Bedeutung zu. Entscheidend ist die Infiltration, d.h. der Befall des Nervengewebes. Der Erreger befällt Nerven aller Qualitäten, wenngleich – ähnlich wie bei anderen Affektionen oder auch bei der Lokalanästhesie – die dünneren Fasern der vegetativen und sensiblen Nerven am empfindlichsten sind. Demzufolge können die Empfindungen für Berührung, Schmerz, Temperatur und Vibration ebenso betroffen sein wie die Schweißbildung und motorische Funktionen. Die Schädigung erfolgt zum einen durch direktes Eindringen vorzugsweise in die Schwannschen Zellen, zum anderen durch die reaktive Auftreibung des Nerven. Diese führt zur internen Kompression der versorgenden Gefäße und zur externen Kompression an anatomischen Engstellen wie etwa im Karpaltunnel, einem Kanal im Bereich des Handwurzelknochens. Das M. leprae ist der einzige Erreger, der intranervale Abszesse u. U. mit Formation caseifizierender Nekrosen hervorrufen kann.

Die Folgen eines chronisch bestehenden sensorischen Defizits sind fatal: Bagatellverletzungen und Fehlbelastungen des Gewebes führen zur Ausbildung persistierender Wunden bzw. Infektionen und letztlich -unterstützt durch den Befall des knöchernen Skelettes - zu spontanen Amputationen. Zudem provoziert das häufig bestehende motorische Defizit die den jeweiligen Nerven zuzuordnenden Fehlstellungen: Krallenhand bei Befall des N. ulnaris, Schwurhand (N. medianus), Fallhand (N. radialis), Fallfuß (N. peronaeus) und schließlich Lagophtalmus (N. facialis). Die isolierte Nervenaffektion ohne cutane Manifestation ist nachgewiesen und besonders häufig auf dem indischen Subkontinent vorzutreffen. Zweifelsohne sind die sekundären Folgen der Lepra - unabhängig vom Vorhandensein aktiver Erreger - klinisch viel bedeutsamer als die unmittelbaren Folgen der Infektion.

5.3 Affektion des Sehapparates

Ebenfalls von herausragender klinischer Bedeutung ist der Befall des Auges durch M. leprae. Läsionen am Auge werden verursacht durch:

  • direkte Invasion des Corpus ciliare und anderer Subkomponenten des Sehorgans vor allem bei lepromatöser Lepra
  • Schädigung von N. trigeminus oder N. facialis und Ausfall der schützenden sensiblen und motorischen Funktionen (Lidschlag!) vorwiegend bei Reaktionen vom Typ I (s. u.!)
  • Ablagerung von Immunkomplexen bei Reaktionen vom Typ II (s. u.!)
  • Infiltration dem Auge benachbarter Strukturen

Diese verschiedenen Schädigungsmechanismen machen die Blindheit zu einer bedeutungsvollen Komplikation der Lepra und die Lepra zu einer bedeutungsvollen Ursache der Blindheit. Die nicht seltene Verbindung der schweren Sehbehinderung mit ausgeprägten Störungen des Tastempfindens ist für betroffene Patienten besonders unheilvoll.

5.4 Affektion des Bewegungsapparates und anderer Organe

Charakteristisch sind weiterhin die Zerstörung des knöchernen Nasenskelettes (Facies leonina) und eine alterierte Stimme durch Infiltration der Plica vocalis und der versorgenden Nerven. Die ossäre Destruktion der Nase wie auch des funktionell bedeutsameren Skelettes der Hände und Füße beruht wiederum auf sich potenzierenden Pathomechanismen:

  • direkte knöcherne Infiltration durch M. leprae (Mycobacterium leprae)
  • Störung von Blutversorgung und Metabolismus der Knochen
  • durch Befall vegetativer Nerven
  • Sekundärinfektion mit anderen Bakterien

Der fatale Synergismus der knöchernen Destruktion mit cutanen und nervalen Schädigungen an den Akren wurde bereits beschrieben.

Nachgewiesenermaßen befällt M. leprae (Mycobacterium leprae) – wenngleich selten – auch die parenchymatösen Organe des Grundgewebes, wie Leber, Milz, Nieren inkl. Nebennieren und die Hoden. Nach der Lungentuberkulose ist die Lepromatöse Lepra die häufigste Ursache einer systemischen Amyloidose; die Amyloidose der Nieren ist wiederum die häufigste durch M. leprae hervorgerufene Todesursache.

5.5 Lepra in der Schwangerschaft

Folgende Erkenntnisse bezüglich Lepra in der Schwangerschaft scheinen gesichert:

  • Die „Empfänglichkeit“ für eine Lepra-Infektion ist während der Schwangerschaft nicht erhöht.
  • Exazerbation (Verschlimmerung), Disseminierung (Streuung) und Rezidive (Rückfall) bei vorbestehender Lepra sind gerade im dritten Trimenon und in der Stillzeit häufig.
  • Lepra führt zur fetoplazentaren Defizienz mit den bekannten Konsequenzen, aber nur selten zu einer Infektion der Placenta.
  • Die intrauterine Infektion (Infektion der Gebärmutter) ist bei Müttern mit der lepromatösen Form der Lepra möglich (wenngleich selten). Die Krankheit manifestiert sich allerfrühestens im dritten Lebensmonat.
  • Trotz des Nachweises von M. leprae in der Muttermilch wird wegen der immunprotektiven Wirkung zum Stillen geraten.
  • Die Behandlung ist die von der WHO empfohlene Standardtherapie; allerdings halten einige Autoren – nicht die WHO – das Medikament Clofazimin im ersten Trimenon für kontraindiziert, also nicht geeignet. Gleiches gilt allerdings dezidiert für die möglichen Antibiotika Ethionamid und Protionamid.
  • Summarisch ergibt sich das Bild eines in Jahrtausenden der biologischen Auseinandersetzung gewachsenen Wirt-Parasit-Verhältnisses, dessen Komplexität und dessen Besonderheiten trotz aller Parallelen einzigartig unter den Infektionskrankheiten sind. Dies gilt auch für die typischen Reaktionen im Verlauf der Lepra.

5.6 Reaktionen

Zu jedem bestimmten Zeitpunkt im Ablauf der Infektion besteht eine bestimmte immunologische Balance zwischen Wirt und Parasit. Drastische Änderungen dieser Balance etwa durch die Polychemotherapie, aber auch durch eine Verschiebung der Immunkompetenz wie z. B. bei einer Schwangerschaft, äußern sich in charakteristischen Krankheitsbildern, den Lepra-Reaktionen. Die Reaktionen bestimmen durch die kennzeichnenden Neuritiden (Nervenstörungen) mitentscheidend die endgültigen neurologischen Defizite der Erkrankung und sind somit in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzen. Es werden zwei Typen unterschieden:

5.6.1. Typ 1 - "reversal reaction"

  • Auftreten bei Borderline Lepra
  • verstärkte zellvermittelte Immunantwort
  • häufigstes Auftreten zwei bis zwölf Monate nach Beginn der Chemotherapie
  • Exazerbation (Verschlechterung) der Hautläsionen, vermehrtes Auftreten und Ulzeration (Geschwürbildung)
  • Neuritiden (Nervenentzündungen) als Hauptsymptom, mitunter perakut (sehr schnell) auftretende sensorische und motorische Ausfälle.

Häufiger sind upgrading reactions in Richtung verbesserte Abwehrlage des Infizierten, die paradoxerweise fatale Folgen haben können (Ersatz der anergen durch eine allerge Abwehrlage). Gelegentlich – etwa im Rahmen einer Schwangerschaft – werden auch downgrading reactions bei reduzierter Immunkompetenz beobachtet.

5.6.2 Typ 2 - "Erythema nodosum leprosum"

  • Auftreten bei LL und auch BL
  • klassisches "lepröses Fieber", Immunkomplexerkrankung
  • häufigstes Auftreten im zweiten bis sechsten Halbjahr nach Beginn der Chemotherapie

Bild des Erythema nodosum leprosum mit Hauteffloreszenzen und Befall der Nerven und Organe, in denen hinreichend Mykobakterien zur Immunkomplexbildung vorhanden sind Die zügige und angepasste konservative und auch chirurgische Therapie der Reaktionen und Neuritiden ist für die weitest gehende „restitutio ad integrum“ – die vollständige Ausheilung der Infizierten ebenso wichtig wie die Chemotherapie selbst. Wichtigste Maßnahmen sind die Gabe von Corticosteroiden (Hormonen) und ggf. die operative Nervendekompression (siehe im Abssatz Therapie).

Die zügige und angepasste konservative und auch chirurgische Therapie der Reaktionen und Neuritiden ist für die weitestgehende restitutio ad integrum (Ausheilung) der Infizierten ebenso wichtig wie die Chemotherapie selbst. Wichtigste Maßnahmen sind die Gabe von Corticosteroiden und ggf. die operative Nervendekompression. Ausführliche Infos zur medikamentösen Therapie finden Sie hier.