06. März 2009

Abakaliki/Nigeria - Die doppelte Todesgefahr

Tuberkulose und HIV – zwei tödliche Krankheiten in einem Patienten

Fast 40 Jahre ist es her, dass die Gegend rund um die Provinzhauptstadt Enugu im Biafra-Krieg verwüstet wurde. Dr. Joseph Chukwu hat dies als Kind erlebt und kann sich noch gut an die Hungersnot nach dem Krieg erinnern. Die Bilder der hungernden Menschen, der „Biafra-Kinder“, haben sich tief in sein Gedächtnis eingeprägt.

Heute werden diese schlimmen Erinnerungen wieder wach: Im Krankenhaus „Mile 4“ von Abakaliki, rund 40 km von Enugu entfernt, treffen täglich neue Patienten ein, viele von ihnen abgemagert bis auf Haut und Knochen. Doch es ist keine neue Hungersnot, diese Menschen leiden an zwei Krankheiten gleichzeitig: Tuberkulose und HIV/Aids.

Jede dieser beiden Krankheiten ist für sich schon lebensbedrohlich und schwächt den ganzen Körper eines Patienten. In der Kombination wird das Immunsystem fast völlig zerstört, weitere Infektionen mit anderen Erregern haben daher leichtes Spiel und bringen zusätzliche Erkrankungen, die den Körper weiter schwächen – ein Teufelskreis, in dessen Verlauf die Patienten immer weiter abmagern.

Rund 500.000 Menschen in Nigeria erkranken jedes Jahr neu an Tuberkulose, jeder zehnte TB-Patient ist gleichzeitig HIV-positiv. Diese Quote wird wohl noch weiter ansteigen, in einigen Ländern Afrikas ist inzwischen die Hälfte aller TB-Patienten gleichzeitig mit HIV infiziert.

Die Gefahr, sich mit HIV zu infizieren, ist nirgendwo größer als in Afrika südlich der Sahara. Sie lauert überall, selbst in den spärlich ausgestatteten staatlichen Krankenhäusern. Gleichzeitig ziehen immer mehr Wanderarbeiter aus den ländlichen Gebieten in die großen und schnell wachsenden Metropolen, wohnen dort auf engstem Raum unter unvorstellbar ärmlichen Bedingungen – ein klassischer „Brutherd“ für Tuberkulose. Täglich kommen mehr dieser Patienten in „Mile 4“ an.

 

Verwandte von Patienten kochen in der Gemeinschaftsküche.

Eine dieser neuen Patienten ist Cordelia A. aus der mehr als 300 Km entfernten Hauptstadt Abuja. Eine ganze Tagesreise hat ihr Mann Boniface auf sich genommen, um nach Mile 4 zu kommen – mit seiner schwerkranken Frau und der sechs Monate alten Tochter Hope. Gerade mal 38 Kilogramm wog Cordelia noch, als Dr. Chukwu sie erstmals untersuchen konnte.

Jeden Sonntag Abend fährt Boniface zurück nach Abuja und kümmert sich in der Woche um die Tochter und das kleine Geschäft, das gerade eben die Versorgung der Familie sichert. Reich sind sie mit ihrem Laden nicht geworden, aber froh darüber, das sie sich selbst ernähren können. Das ist in den großen Städten nicht mehr selbstverständlich, seit sich die Preise für Lebensmittel in nur einem Jahr mehr als verdoppelt haben. Viele Nachbarn aus dem Slum am Rand von Abuja leiden unter Mangelernährung, sind daher an Tuberkulose erkrankt. Die meisten gehen zur Behandlung in ein staatliches Krankenhaus, bekommen ihre Medikamente und werden wieder nach Hause geschickt. Niemand testet dort einen TB-Patienten auf eine mögliche HIV-Infektion, obwohl dies unbedingt nötig wäre, weil die Therapie ansonsten erfolglos verlaufen würde.

In Abuja hatte der 42-Jährige von dem Krankenhaus in Abakaliki gehört, von Dr. Chukwu und den anderen Ärzten der Deutschen Lepra- und Tuberkulosehilfe (DAHW). Aber dies war nicht der einzige Grund für die lange Anreise: Seinen Nachbarn und besonders seinen Kunden erzählt Boniface gern, dass seine Frau zu ihrer Mutter gefahren sei, um diese zu pflegen. Kein Kunde würde mehr bei ihm einkaufen, wenn er wüsste, dass Cordelia mit HIV und TB infiziert ist. Da würde es auch nicht helfen, dass seine eigenen Testergebnisse negativ sind – er und die kleine Tochter sind gesund.

Freitagnachmittag schließt Boniface seinen kleinen Laden und kehrt wieder zurück zu seiner Frau nach Abakaliki. Für diese Fahrten ist er froh, dass er für sein Geschäft diesen alten Transporter hat: Immer wieder stehen Menschen an den Straßen, die er gegen einen kleinen Beitrag zu den Fahrtkosten mitnimmt. Inzwischen hat er drei Vollzeit-Jobs: fürsorglicher Familienvater, hart arbeitender Händler und an den Wochenenden Fahrer eines Buschtaxis zwischen Abuja und Enugu.

Trotz dieses kleinen Zubrotes wird das Geld der kleinen Familie immer knapper: Kaum etwas bleibt übrig, um die Mahlzeiten im Krankenhaus bezahlen zu können. In Nigeria ist es wie in vielen Ländern Afrikas üblich, dass Patienten in Krankenhäusern durch Angehörige versorgt werden. In Gemeinschaftsküchen bereiten Ehefrauen, Schwestern, Töchter oder Nichten der Patienten das Essen für ihre jeweiligen Verwandten zu. Alle Zutaten gibt es auf dem kleinen Markt vor dem Krankenhaus zu kaufen.

Wer keine Verwandten hat, muss jemanden für diese Dienste bezahlen, aber das kann sich Boniface inzwischen auch nicht mehr leisten, denn Cordelia benötigt eine spezielle Ernährung. Sie muss erst wieder „aufgepäppelt“ werden, bevor sie die übliche Nahrung zu sich nehmen und auch wieder vertragen kann. 14 Tabletten muss sie jeden Tag einnehmen – ihre einzige Rettung vor dem sonst sicheren Tod. Doch die Einnahme so vieler und starker Medikamente bringt den Magen oft zur Rebellion.

Die irischen Missionsschwestern in „Mile 4“ kümmern sich jetzt um Cordelias Ernährung. „Was sollten wir denn sonst machen,“ fragt Sister Joanne Kelly mit entschlossenem Blick: „Wenn ihr Mann dies bezahlen müsste, würden wir diese Familie erst auseinander reißen und dann finanziell ruinieren. Könnten Sie so etwas verantworten? – Wir nicht!“

Sister Joanee Kelly ist seit 44 Jahren in "Mile4".

Dass Boniface und Hope an jedem Wochenende bei ihr sind, gibt der jungen Mutter die Kraft zurück, die ihr die Erkrankung genommen hat. Obwohl sie wegen der Ansteckungsgefahr ihre Tochter nicht in den Arm nehmen kann, genießt sie die Nähe und Geborgenheit ihrer Familie. Der Gedanke daran hilft ihr, wenn sie bei der Einnahme der vielen Tabletten wieder mal erbricht und diese tägliche Prozedur mehr als eine Stunde dauert. Die Schwestern kümmern sich aufopferungsvoll um Cordelia, auch wenn sie in der gleichen Zeit zehn andere Patienten versorgen könnten – ja müssten: Das Krankenhaus von Abakaliki ist mehr als nur ausgelastet. „Zum Glück rechnen wir hier nicht nach Kopfpauschalen, sondern wir sehen die Menschen, die zu uns kommen und unsere Hilfe benötigen“, lobt Dr. Chukwu die irischen Schwestern.

Seine Sorge gilt Schwestern wie Patienten gleichzeitig: Zu gern würde er mehr Menschen wie Cordelia helfen können, aber wie soll er Lebensmittel und Medikamente bezahlen? Zu gern würde er auch ein paar Krankenschwestern zusätzlich zu den wenigen Missionsschwestern einstellen, aber wer bezahlt deren Lohn? Ein Blick auf das „Wartezimmer“ unter den Bäumen vor dem Hospital bereitet dem Arzt immer wieder neue Kopfschmerzen: „Wir kommen mit dem vorhandenen Geld gerade so über die Runden, aber es kommen immer mehr Patienten wie Cordelia. Die können wir doch nicht einfach nach Hause schicken!

Text: Jochen Hövekenmeier