Würzburg, 20.12.2024: „Wir machen gerade eine einzigartige Erfahrung“, sagt Nataliia Hrodz und meint das nicht positiv: „Die Therapeuten in der Ukraine erleben dasselbe Trauma wie ihre Patienten. Das gab es so bei uns noch nie.“
20. Dezember 2024
Ein helles Licht gegen das Trauma – ukrainische Psychotherapeut:innen bilden sich in Würzburg fort
Nataliia Hrodz sieht aus dem Fenster des Rudolf-Alexander-Schröder-Hauses in Würzburg. Es ist ein grauer Herbsttag, gerade machen sie und ihre Kolleg:innen eine Pause, bevor es mit der Schulung weitergeht. Die Psychologin und Psychotherapeutin ist aus der westukrainischen Stadt Lviv angereist, um sich in einer speziellen Methode zur Traumabewältigung weiterzubilden – in einem gemeinsamen Projekt der DAHW Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe und dem ITP Institut für Trauma und Psychotherapie Würzburg. In Lviv arbeitet sie im von der DAHW unterstützten Rehabilitationszentrum „Unbroken“. „Ich habe vor allem mit Angehörigen von Soldaten zu tun“, erzählt sie. „Frauen, die auf ihre Söhne warten, Kinder, die auf den Papa warten, Witwen, die den Ehemann verloren haben. Die größte Herausforderung für mich sind Frauen, deren Männer sich in Kriegsgefangenschaft befinden oder einfach spurlos verschwunden sind, vermisst werden.“
Die DAHW unterstützt Projekte in der Ukraine seit 2023 mit Mitteln, die der Organisation als Mitglied des BEH (Bündnis Entwicklung Hilft) zustehen. Dazu gehört das Krankenhaus in Lviv, in dem vor allem Kinder medizinische Versorgung, Rehabilitationsleistungen und Hilfsmittel erhalten. Der Tatsache, dass nicht nur die körperlichen, sondern auch die psychischen Belastungen durch den Krieg enorm sind, wird das Projekt zur akuten Traumabewältigung gerecht, das Mitglieder des Lions Clubs Würzburg-Löwenbrücke in Kooperation mit der ukrainischen Lions Foundation in Kiew mit initiiert haben.
Und so sitzen Nataliia Hrodz und rund zwanzig weitere ukrainische Therapeut:innen an diesem Tag im Halbkreis zusammen und folgen den Ausführungen von Dr. Marion Schowalter, Leiterin der Trauma-Ambulanz des Universitätsklinikums Würzburg. Die Dozentin zeigt ein Video: ein Mitschnitt einer realen Therapiesituation. Die Patientin erinnert sich gerade aktiv an ein heftiges Trauma. Begleitet wird dieses erneute Durchleben der schrecklichen Situation von kurzen Sequenzen, in denen sie mit den Augen einem Lichtpunkt folgt, der auf einer Leiste hin- und herwandert. Diese Augenbewegungen finden so ähnlich auch in der Schlafphase statt, in der normalerweise Ereignisse des Tages verarbeitet werden. Die sogenannte bilaterale Stimulation hilft dabei, das Trauma aufzulösen. EMDR heißt diese Methode, kurz für „Eye Movement Desensitization and Reprocessing“.
„EMDR ist mittlerweile neben der Verhaltenstherapie die Traumatherapiemethode“, erklärt Dr. Schowalter, „mit dem Unterschied, dass EMDR viel, viel schneller geht“: sie benötigt nur einen Bruchteil der Zeit, die man normalerweise für eine Gesprächs- oder Verhaltenstherapie aufwenden müsste, um ein Trauma zu verarbeiten. Ein riesiger Vorteil für die ukrainischen Therapeut:innen, findet Teilnehmer Myron Ostrovskyy, Psychiater und Mitarbeiter des Gesundheitsamts aus Lviv: „Ich habe die Hoffnung, dass die Hilfe für Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen nun effektiver wird“, sagt er. „Wenn auch ich Kollegen weiterbilden kann, kann noch schneller noch mehr Menschen geholfen werden.“
Das unterstreicht auch Dr. Schowalter: „Wir brauchen dringend mehr Traumatherapeuten in der Ukraine, auch nach dem Krieg“, erklärt sie. „Es soll nicht so sein wie bei uns in Deutschland, wo Betroffene dreißig, vierzig Jahre lang mit den Folgen gelebt haben, sondern das muss schneller gehen.“ Außerdem sei es grundsätzlich wichtig, Expertise auf diesem Gebiet in Krisengebiete zu bringen: „Man hat bisher Medizinprodukte gebracht und andere Hilfsgüter, und nun wird klar, dass Traumawissen auch wichtig sein kann. Und das finde ich großartig.“
Das Trainingskonzept sieht vor, dass die Teilnehmenden eine Woche lang in Würzburg weitergebildet werden. Wenn sie dann in die Ukraine zurückkehren, bekommen sie eine regelmäßige Online-Supervision, bis sie schließlich in einer Art Abschlussprüfung per Video zeigen, wie sie das Gelernte umsetzen. „Die ersten Teilnehmenden haben das schon erledigt und wir sind sehr zufrieden mit den Ergebnissen“, sagt Dr. Schowalter. Auch ihr ist aber die besondere Situation der ukrainischen Kolleg:innen aufgefallen: Therapeut:innen, die von denselben Belastungen betroffen sind wie ihre Patient:innen. „Wir haben schon bei der ersten Gruppe, die hier war, gemerkt, dass ein Großteil der Teilnehmenden schon ganz nah am Trauma ist“, erklärt sie. „Einige Übungen, in der zum Beispiel positive Gefühle verstärkt werden sollen, waren gar nicht möglich. Wir haben unser Training dann angepasst und auch eine Befragung durchgeführt und die hat ergeben, dass 70 Prozent der Gruppe Symptome aufweisen, die einer posttraumatischen Belastungsstörung entsprechen.“
Nataliia Hrodz zuckt die Schultern. „Wir sind 2022 in einer anderen Realität aufgewacht“, sagt sie. „Die ganze Ukraine ist Opfer dieses Krieges.“ Sie hofft nun, dass ihre Patient:innen von dem profitieren können, was sie in Würzburg gelernt hat. „Es kann wirklich für alle hilfreich sein“, ist sie überzeugt, „und deshalb bin ich zutiefst dankbar für diese wertvolle Erfahrung.“