13. Februar 2014

Fall-Findung im Hinterland Liberias

Mitarbeiterin Sonja erlebt hautnah die Lepra-Arbeit in Liberia.
Auf der Fahrt in abgelegene Dörfer sind sie auf der Suche nach neuen Lepra-Fällen.

Aufgeregt sitze ich am Frühstückstisch. Gleich, nach dem Morgengebet

mit den Mitarbeitern des Ganta Rehab Centers, geht es los – in das

Hinterland Liberias, den Busch, wie es die Einheimischen nennen. Ein

bisschen Angst vor meiner eigenen Courage begleitet mich diesen Morgen:

War es eine gute Idee, sich für einen Trip anzumelden, der als hart

beschrieben wurde und für den man sich besser mental vorbereiten sollte?

Doch entgehen lassen wollte ich mir die einmalige Gelegenheit nicht,

hautnah mitzuerleben, wie Mitarbeiter des Centers in Dörfern auf dem

Land nach neuen Lepra-Patienten suchen.

Beim Morgengebet, das jeden Tag von einem anderen Mitarbeiter

gesprochen wird, gibt man uns drei „Busch-Reisenden“ die besten Wünsche

mit auf den Weg. Kurz darauf ist es soweit: Der beige-braune Jeep steht

startklar bereit – drinnen warten schon Fahrer Sampson und

Krankenpfleger John. Schnell verabschieden wir uns von unseren Kollegen.

Und dann sind wir auch schon unterwegs.

Die große, für Liberias Verhältnisse recht gut ausgebaute, jedoch

nicht asphaltierte Straße, führt uns aus Ganta heraus. Wir kommen durch

Sanniquellie, der Hauptstadt der Region Nimba. Es ist die Stadt, in der

das erste Treffen der African Union (AU) stattgefunden hat, klärt John

uns auf. Von Sanniquellie aus geht es auf schmaleren Straßen weiter, die

Schlaglöcher werden größer und wechseln sich mit tiefen Furchen ab, die

vermutlich in der Regenzeit in die Straße gespült wurden.

Eine Radiostation ist unser erster Halt. Gegen Bezahlung wird von

hier aus eine Ankündigung – auf Englisch und Gio, dem lokalen Dialekt –

im Radio gesendet, dass die Menschen in den umliegenden Dörfern zu einer

kostenlosen Hautuntersuchung kommen können.

Der

freiwillige Gesundheitshelfer Alex (links) erläutert, dass alle

Dorfbewohner sich kostenlos auf Hautkrankheiten untersuchen lassen

können. Foto: Becker / DAHW

Im Dorf Zontuo stoppen wir erneut. Hier treffen wir Alex, der als

freiwilliger Gesundheitshelfer bei der Suche nach neuen Patienten hilft.

„Alex macht die Arbeit komplett freiwillig“, erklärt John. „Die

Regierung bezahlt nichts für diese Arbeit. Aber von uns erhält er für

jeden Besuch etwas Geld – als Motivation.“ Während Alex das Dorf

zusammenruft, warten wir am Versammlungsort: eine Art runde Hütte mitten

im Dorf, die jedoch keine Wände besitzt, sondern zu allen Seiten hin

offen ist und somit einen angenehmen Wind in der Hitze zulässt. Schnell

werden ein paar Bänke angeschleppt, die man uns als Sitzgelegenheit

anbietet. Nach und nach hat sich unsere Ankunft im Dorf herumgesprochen.

Immer mehr Menschen, vor allem Kinder, kommen und begrüßen uns. Einige

ältere Dorfbewohner, unter ihnen auch der Chief – eine Art

Dorfvorsteher, heißen uns mit dem landestypischen Handschlag willkommen:

Man reicht sich die Hände und schnippt beim Auseinandergehen mit den

Mittelfingern. Andere starren uns weiße Besucher zunächst nur an. Doch

als wir lächeln und winken, wird daraus schnell ein fröhliches Lachen.

Nach einer Weile geben uns Alex und John Bescheid, dass nun alles

für die Untersuchung bereit sei. Gemeinsam betreten wir ein nahe

gelegenes Wohnhaus und stehen in einem Raum, der von der hier lebenden

Familie wohl als eine Art Wohn- und Esszimmer genutzt wird. Beide

Fenster werden geöffnet, so dass genügend Licht hineinfällt. Das ist

wichtig, damit sich John die Haut genau ansehen kann. Sampson steht an

der Tür und fordert die Dorfbewohner auf, sich nacheinander anzustellen.

Einzeln, immer eine Person nach der anderen, kann das

Untersuchungszimmer betreten werden. Von jedem lässt sich John zuerst

die Arme zeigen. Dann überprüft er den Oberkörper und die Beine. Er

sucht nach auffälligen, helleren Flecken auf der Haut. Kann er nichts

Ungewöhnliches entdecken, schickt er die Leute mit einem „Alles ok. Du

kannst gehen.“ hinaus. Viele strahlen und freuen sich, dass alles in

Ordnung ist. Einige Frauen sind so erleichtert, dass sie John umarmen

oder einen kleinen Freudentanz hinlegen.

Bei einer Frau mittleren Alters fällt Johns Untersuchung

gründlicher aus, und wir ahnen, dass er hier eine Erkrankung vermutet.

Tatsächlich weist er uns wenig später auf einige helle Hautpartien an

ihren Beinen hin. Sampson reicht ihm aus der großen, blauen

Medikamenten-Box ein Stück Watte, das John zu einer kleinen Spitze

zusammenrollt. „Ich werde damit Deine Haut berühren. Wenn Du etwas

spürst, sagst Du 'Yes'", erklärt er der Dorfbewohnerin. Die nickt, und

John beginnt, mit der Watte die Empfindlichkeit der Haut zu testen.

Zunächst berührt er willkürlich Stellen an den Beinen. Dann bittet er

die Frau, die Augen zu schließen. Wie zuvor wird jede gefühlte Berührung

der Haut mit einem „Yes“ beantwortet. Doch als die Watte schließlich

über die hellen Hautflecken streicht, bleibt eine Antwort aus. Wieder

und wieder testet John die betroffenen Stellen – keine Reaktion. An uns

gewandt fasst er das Ergebnis der Untersuchung zusammen: „Die

Nervenzellen in den Hautflecken sind angegriffen. Deshalb fühlt die Frau

dort keine Berührung mehr.“ Das Wort „Lepra“ lässt der Krankenpfleger

an dieser Stelle bewusst aus – zu groß ist das Stigma, das mit dieser

Krankheit verbunden ist. Mit einem diskreten Kopfnicken bedeutet John

dem Gesundheitshelfer Alex, dass die Frau eine neue Patientin ist. Für

die spätere Aufnahme ihrer Daten wird sie gebeten zu warten, bis die

Untersuchung aller Dorfbewohner abgeschlossen ist.

Als Nächste ist ein junges Mädchen an der Reihe – um die 14 Jahre

alt. Sie wirkt verschüchtert, und bei näherem Hinsehen erkenne ich, dass

sie weint. „Tochter“, sagt Alex nur und deutet von der zuvor

untersuchten Frau auf das Mädchen. John reicht ihr seine Hand, fragt

nach ihrem Namen, stellt sich selbst vor. Beruhigend spricht er auf sie

ein und beginnt vorsichtig mit der Untersuchung. Als sie das T-Shirt

auszieht, sehe ich die hellen Flecken an ihrer Schulter. Auch bei ihr

benutzt der Krankenpfleger Watte, um die Sensibilität zu testen. Und

auch bei ihr ist die Diagnose Lepra. Er erklärt Mutter und Tochter, dass

es gut sei, dass sie gekommen sind. „Ihr bekommt von uns Medikamente –

kostenlos“, fügt er hinzu, „dann seid Ihr bald wieder gesund.“

Mit

einem Stück Watte berührt John die hellen Hautpartien und überprüft, ob

diese Stellen berührungsempfindlich sind. Foto: Becker / DAHW

Bei den folgenden Untersuchungen entdeckt John einen weiteren

Lepra-Patienten: einen jungen Mann, der kaum älter als 18 Jahre alt ist.

Anderen Dorfbewohnern, die mit Ausschlag oder anderen Hautveränderungen

kommen, gibt Sampson auf Anweisung von John eine Salbe. Alle sind

dankbar für die Hilfe vor Ort, die sie nichts kostet.

Nach zwei bis drei Stunden und um die 100 untersuchten Personen

kommen keine weiteren Menschen mehr. John setzt sich an den kleinen

Tisch im Raum und holt aus der Medikamenten-Box einen großen Ordner

heraus. Einen nach dem anderen bittet er die drei neu gefundenen

Lepra-Patienten zu sich. Für jeden von ihnen erstellt er ein

zwei-seitiges Patienten-Blatt, das neben dem Namen und dem Alter auch

die Anzahl der Lepra-Flecken sowie die betroffenen Stellen des Patienten

festhält. Eine kürzere Abschrift dieser Informationen erhält Alex, der

Gesundheitshelfer. Er wird derjenige sein, der die Einnahme der

heilenden Medikamente sowie die Gesundung der Patienten über die

nächsten Monate hinweg im Auge behält. Der erste Schritt jedoch

geschieht direkt vor Ort: John reicht jedem der Erkrankten die erste

Tablette der Antibiotika-Kombination und beobachtet, wie diese mit einem

Schluck Wasser geschluckt wird. Die restlichen Medikamente, die über

mindestens sechs Monate eingenommen werden, übergibt er danach an Alex.

Direkt vor Ort erhalten die neu gefundenen Lepra-Patienten die erste Dosis der heilenden Medikamente. Foto: Becker / DAHW

Als alle Materialien wieder eingepackt und im Auto verladen sind,

heißt es Abschied nehmen. Inzwischen ist auch die letzte Unsicherheit

uns Besuchern gegenüber verschwunden. Wir finden uns umringt von den

Dorfbewohnern, die uns die Hände schütteln und mit uns fotografiert

werden möchten. Immer wieder sagen sie, wie dankbar sie sind, dass John

gekommen ist, um sie zu untersuchen, und dass wir ihn begleiten, um zu

sehen, wie sie leben.

Tief beeindruckt von der Arbeit, die Fall-Findung bedeutet, steige

ich in den Jeep. Mir wird bewusst, dass John durch die frühe Diagnose

heute drei Menschen vor den fürchterlichen Folgen einer unbehandelten

Lepra-Erkrankung bewahrt hat. Als ich den Dorfbewohnern im Vorbeifahren

zum Abschied zuwinke, erfüllt mich ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit für

diese Erfahrung und die Möglichkeit, ein Teil dieser Hilfe für

erkrankte Menschen sein zu können.

Sonja Becker für das Reiseteam