Aufgeregt sitze ich am Frühstückstisch. Gleich, nach dem Morgengebet
mit den Mitarbeitern des Ganta Rehab Centers, geht es los – in das
Hinterland Liberias, den Busch, wie es die Einheimischen nennen. Ein
bisschen Angst vor meiner eigenen Courage begleitet mich diesen Morgen:
War es eine gute Idee, sich für einen Trip anzumelden, der als hart
beschrieben wurde und für den man sich besser mental vorbereiten sollte?
Doch entgehen lassen wollte ich mir die einmalige Gelegenheit nicht,
hautnah mitzuerleben, wie Mitarbeiter des Centers in Dörfern auf dem
Land nach neuen Lepra-Patienten suchen.
Beim Morgengebet, das jeden Tag von einem anderen Mitarbeiter
gesprochen wird, gibt man uns drei „Busch-Reisenden“ die besten Wünsche
mit auf den Weg. Kurz darauf ist es soweit: Der beige-braune Jeep steht
startklar bereit – drinnen warten schon Fahrer Sampson und
Krankenpfleger John. Schnell verabschieden wir uns von unseren Kollegen.
Und dann sind wir auch schon unterwegs.
Die große, für Liberias Verhältnisse recht gut ausgebaute, jedoch
nicht asphaltierte Straße, führt uns aus Ganta heraus. Wir kommen durch
Sanniquellie, der Hauptstadt der Region Nimba. Es ist die Stadt, in der
das erste Treffen der African Union (AU) stattgefunden hat, klärt John
uns auf. Von Sanniquellie aus geht es auf schmaleren Straßen weiter, die
Schlaglöcher werden größer und wechseln sich mit tiefen Furchen ab, die
vermutlich in der Regenzeit in die Straße gespült wurden.
Eine Radiostation ist unser erster Halt. Gegen Bezahlung wird von
hier aus eine Ankündigung – auf Englisch und Gio, dem lokalen Dialekt –
im Radio gesendet, dass die Menschen in den umliegenden Dörfern zu einer
kostenlosen Hautuntersuchung kommen können.
Der
freiwillige Gesundheitshelfer Alex (links) erläutert, dass alle
Dorfbewohner sich kostenlos auf Hautkrankheiten untersuchen lassen
können. Foto: Becker / DAHW
Im Dorf Zontuo stoppen wir erneut. Hier treffen wir Alex, der als
freiwilliger Gesundheitshelfer bei der Suche nach neuen Patienten hilft.
„Alex macht die Arbeit komplett freiwillig“, erklärt John. „Die
Regierung bezahlt nichts für diese Arbeit. Aber von uns erhält er für
jeden Besuch etwas Geld – als Motivation.“ Während Alex das Dorf
zusammenruft, warten wir am Versammlungsort: eine Art runde Hütte mitten
im Dorf, die jedoch keine Wände besitzt, sondern zu allen Seiten hin
offen ist und somit einen angenehmen Wind in der Hitze zulässt. Schnell
werden ein paar Bänke angeschleppt, die man uns als Sitzgelegenheit
anbietet. Nach und nach hat sich unsere Ankunft im Dorf herumgesprochen.
Immer mehr Menschen, vor allem Kinder, kommen und begrüßen uns. Einige
ältere Dorfbewohner, unter ihnen auch der Chief – eine Art
Dorfvorsteher, heißen uns mit dem landestypischen Handschlag willkommen:
Man reicht sich die Hände und schnippt beim Auseinandergehen mit den
Mittelfingern. Andere starren uns weiße Besucher zunächst nur an. Doch
als wir lächeln und winken, wird daraus schnell ein fröhliches Lachen.
Nach einer Weile geben uns Alex und John Bescheid, dass nun alles
für die Untersuchung bereit sei. Gemeinsam betreten wir ein nahe
gelegenes Wohnhaus und stehen in einem Raum, der von der hier lebenden
Familie wohl als eine Art Wohn- und Esszimmer genutzt wird. Beide
Fenster werden geöffnet, so dass genügend Licht hineinfällt. Das ist
wichtig, damit sich John die Haut genau ansehen kann. Sampson steht an
der Tür und fordert die Dorfbewohner auf, sich nacheinander anzustellen.
Einzeln, immer eine Person nach der anderen, kann das
Untersuchungszimmer betreten werden. Von jedem lässt sich John zuerst
die Arme zeigen. Dann überprüft er den Oberkörper und die Beine. Er
sucht nach auffälligen, helleren Flecken auf der Haut. Kann er nichts
Ungewöhnliches entdecken, schickt er die Leute mit einem „Alles ok. Du
kannst gehen.“ hinaus. Viele strahlen und freuen sich, dass alles in
Ordnung ist. Einige Frauen sind so erleichtert, dass sie John umarmen
oder einen kleinen Freudentanz hinlegen.
Bei einer Frau mittleren Alters fällt Johns Untersuchung
gründlicher aus, und wir ahnen, dass er hier eine Erkrankung vermutet.
Tatsächlich weist er uns wenig später auf einige helle Hautpartien an
ihren Beinen hin. Sampson reicht ihm aus der großen, blauen
Medikamenten-Box ein Stück Watte, das John zu einer kleinen Spitze
zusammenrollt. „Ich werde damit Deine Haut berühren. Wenn Du etwas
spürst, sagst Du 'Yes'", erklärt er der Dorfbewohnerin. Die nickt, und
John beginnt, mit der Watte die Empfindlichkeit der Haut zu testen.
Zunächst berührt er willkürlich Stellen an den Beinen. Dann bittet er
die Frau, die Augen zu schließen. Wie zuvor wird jede gefühlte Berührung
der Haut mit einem „Yes“ beantwortet. Doch als die Watte schließlich
über die hellen Hautflecken streicht, bleibt eine Antwort aus. Wieder
und wieder testet John die betroffenen Stellen – keine Reaktion. An uns
gewandt fasst er das Ergebnis der Untersuchung zusammen: „Die
Nervenzellen in den Hautflecken sind angegriffen. Deshalb fühlt die Frau
dort keine Berührung mehr.“ Das Wort „Lepra“ lässt der Krankenpfleger
an dieser Stelle bewusst aus – zu groß ist das Stigma, das mit dieser
Krankheit verbunden ist. Mit einem diskreten Kopfnicken bedeutet John
dem Gesundheitshelfer Alex, dass die Frau eine neue Patientin ist. Für
die spätere Aufnahme ihrer Daten wird sie gebeten zu warten, bis die
Untersuchung aller Dorfbewohner abgeschlossen ist.
Als Nächste ist ein junges Mädchen an der Reihe – um die 14 Jahre
alt. Sie wirkt verschüchtert, und bei näherem Hinsehen erkenne ich, dass
sie weint. „Tochter“, sagt Alex nur und deutet von der zuvor
untersuchten Frau auf das Mädchen. John reicht ihr seine Hand, fragt
nach ihrem Namen, stellt sich selbst vor. Beruhigend spricht er auf sie
ein und beginnt vorsichtig mit der Untersuchung. Als sie das T-Shirt
auszieht, sehe ich die hellen Flecken an ihrer Schulter. Auch bei ihr
benutzt der Krankenpfleger Watte, um die Sensibilität zu testen. Und
auch bei ihr ist die Diagnose Lepra. Er erklärt Mutter und Tochter, dass
es gut sei, dass sie gekommen sind. „Ihr bekommt von uns Medikamente –
kostenlos“, fügt er hinzu, „dann seid Ihr bald wieder gesund.“
Mit
einem Stück Watte berührt John die hellen Hautpartien und überprüft, ob
diese Stellen berührungsempfindlich sind. Foto: Becker / DAHW
Bei den folgenden Untersuchungen entdeckt John einen weiteren
Lepra-Patienten: einen jungen Mann, der kaum älter als 18 Jahre alt ist.
Anderen Dorfbewohnern, die mit Ausschlag oder anderen Hautveränderungen
kommen, gibt Sampson auf Anweisung von John eine Salbe. Alle sind
dankbar für die Hilfe vor Ort, die sie nichts kostet.
Nach zwei bis drei Stunden und um die 100 untersuchten Personen
kommen keine weiteren Menschen mehr. John setzt sich an den kleinen
Tisch im Raum und holt aus der Medikamenten-Box einen großen Ordner
heraus. Einen nach dem anderen bittet er die drei neu gefundenen
Lepra-Patienten zu sich. Für jeden von ihnen erstellt er ein
zwei-seitiges Patienten-Blatt, das neben dem Namen und dem Alter auch
die Anzahl der Lepra-Flecken sowie die betroffenen Stellen des Patienten
festhält. Eine kürzere Abschrift dieser Informationen erhält Alex, der
Gesundheitshelfer. Er wird derjenige sein, der die Einnahme der
heilenden Medikamente sowie die Gesundung der Patienten über die
nächsten Monate hinweg im Auge behält. Der erste Schritt jedoch
geschieht direkt vor Ort: John reicht jedem der Erkrankten die erste
Tablette der Antibiotika-Kombination und beobachtet, wie diese mit einem
Schluck Wasser geschluckt wird. Die restlichen Medikamente, die über
mindestens sechs Monate eingenommen werden, übergibt er danach an Alex.
Direkt vor Ort erhalten die neu gefundenen Lepra-Patienten die erste Dosis der heilenden Medikamente. Foto: Becker / DAHW
Als alle Materialien wieder eingepackt und im Auto verladen sind,
heißt es Abschied nehmen. Inzwischen ist auch die letzte Unsicherheit
uns Besuchern gegenüber verschwunden. Wir finden uns umringt von den
Dorfbewohnern, die uns die Hände schütteln und mit uns fotografiert
werden möchten. Immer wieder sagen sie, wie dankbar sie sind, dass John
gekommen ist, um sie zu untersuchen, und dass wir ihn begleiten, um zu
sehen, wie sie leben.
Tief beeindruckt von der Arbeit, die Fall-Findung bedeutet, steige
ich in den Jeep. Mir wird bewusst, dass John durch die frühe Diagnose
heute drei Menschen vor den fürchterlichen Folgen einer unbehandelten
Lepra-Erkrankung bewahrt hat. Als ich den Dorfbewohnern im Vorbeifahren
zum Abschied zuwinke, erfüllt mich ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit für
diese Erfahrung und die Möglichkeit, ein Teil dieser Hilfe für
erkrankte Menschen sein zu können.
Sonja Becker für das Reiseteam