18. Januar 2010

Indien - Für eine Hand voll Glück

Den selbst geschnitzten Cricketschläger kann Samuel auch mit seinen Krallenhänden halten. Foto: Jochen Hövekenmeier / DAHW

Der 15-jährige Samuel kann seine Hände wieder benutzen

11 Jahre alt war Samuel, als er vor dem DAHW-Hilfsprojekt Sivananda in der indischen Millionenstadt Hyderabad „abgeladen“ wurde - schwer an Lepra erkrankt und die Hände zu unförmigen Krallen verkümmert. Sein „Besitzer“, für den er jahrelang schwere Feldarbeit verrichten musste, hatte für den Jungen keine Verwendung mehr.

„Ich werde niemals vergessen, wie dankbar Samuel war, als ich ihn in den Arm genommen habe“, erinnert sich Dr. August Beine noch an die Ankunft des damals 11-jährigen Jungen in Sivananda. Jeder Mensch, der an Lepra erkrankt ist, freut sich über diese kleine Geste, weil er sie so selten erfährt. Aber dieser Junge hat schon so viel mehr erleben müssen: Erst hier hat er zum ersten Mal menschliche Wärme und Liebe erfahren durch die Schwestern und Ärzte des Rehabilitationszentrums Sivananda.

Seit er denken kann, sagt der Junge in gebrochenem Englisch, musste er harte Feldarbeit verrichten für einen Mann, dessen richtigen Namen er nicht einmal kennt. Seine Eltern hat der Junge nie kennengelernt – schon als Kleinkind hatten sie den Jungen in die Obhut des Mannes gegeben, der ihn dann so brutal ausgenutzt hat.

Wahrscheinlich hatte der Mann Samuels Eltern versprochen, er werde sich um eine Schulausbildung für den Jungen kümmern. Immer wieder glauben junge und arme Eltern solchen Versprechungen und geben ihre Kinder, die sie selbst kaum noch ernähren können, in gutem Glauben her. Manche müssen dann betteln gehen und dort, wo keine Touristen sind, schuften sie auf den Feldern, bis sie nicht mehr können.

Eines Tages ist Samuel nicht mehr in der Lage, das schwere Werkzeug in seine kleinen Hände zu nehmen. Leprabakterien haben die Nerven in seinen Armen so zerstört, dass er seine Finger kaum noch bewegen kann – wie Krallen sind die Finger nach innen gekrümmt, stehen krumm und steif mehr im Weg als dass sie nützlich sein könnten. Einer der Aufpasser seines Chefs ist dann mit Samuel einen ganzen Tag lang durch das Land gefahren und hat ihn schließlich hier in Sivananda ausgesetzt.

Wenn Samuel „Sivananda“ sagt, dann höre ich in seiner Stimme eine Mischung aus Freude, Glück und Dankbarkeit. Erst vier Jahre ist er hier in dem Hilfsprojekt, das so viel mehr ist als ein Krankenhaus: Alte und alleinstehende Menschen haben hier eine Heimat gefunden, ehemalige Leprapatienten bekommen eine Berufsausbildung und können in den Werkstätten arbeiten, und für die Kinder gibt es eine Schule.

Mit seinen 15 Jahren besucht Samuel die 4. Klasse der Schule von Sivananda, erst hier konnte er überhaupt zur Schule gehen. Für die hiesige Schule ist dies aber kein Problem, in vielen Klassenräumen sind Kinder mit unterschiedlichem Alter zu sehen. Zunächst kommt der Gedanke, das sei wie bei den alten Dorfschulen früher in Deutschland: acht Klassen gemeinsam bei einem Lehrer in einem Raum. Aber so viele Kinder durften keine Schule besuchen, bevor sie nach Sivananda kamen: Entweder mussten sie arbeiten oder sie wurden wegen Lepra von ihrer Schule verwiesen.

Hier in Sivananda ist es kein Problem, ob die Erstklässler nun sechs, sieben oder – wie Samuel damals – elf Jahre alt sind, ob sie selbst oder ihre Eltern an Lepra leiden oder aus anderen Gründen von ihren Mitmenschen ausgestoßen wurden. Und Samuel geht gern in diese Schule – er hat hier Freunde gefunden und nennt Sivananda sein Zuhause, die Ärzte und Schwestern seine Familie.

Richtig traurig erzählt er, dass er noch mindestens eine Woche hier im Bett liegen müsse, weil er sich beim Cricket spielen ein Bein gebrochen hat. Cricket ist in Indien neben Hockey der Nationalsport. Und wie die Kinder früher in Deutschland sich einen Fußball aus alten Lumpen selbst gebastelt haben, hat sich Samuel seinen Cricketschläger selbst geschnitzt. In jeder Pause geht es mit solchen Schlägern auf den Schulhof, und später nochmal, wenn die Hausaufgaben erledigt sind.

Stolz zeigt Samuel, dass er trotz seiner Krallenhände den Cricketschläger halten kann und seine Übungen, die er mehrmals täglich mit seinen Fingern macht. Als er ankam in Sivananda, konnte er seine Hände doch kaum bewegen. Mit gezielter Physiotherapie arbeiten die Ärzte daran, dass Hilfsmuskeln aktiviert werden und die Patienten ihre Hände wieder benutzen können.

Überall auf dem weitläufigen Gelände sind Menschen, die ständig diese Übungen machen. Schon nach kurzer Zeit können sie Arbeiten erledigen, die selbst mit gesunden Händen nicht einfach sind. Und irgendwann wird Dr. August Beine Samuels erste Hand operieren: Der Arzt aus Dortmund, der sich seit mehr als 40 Jahren um die Menschen in Sivananda kümmert, wird die Nervenbahnen quasi neu anschließen, so dass die Hände später wieder ganz normal aussehen und zu benutzen sind.

Samuel wollte er eigentlich jetzt operieren, meint Dr. Beine, aber das gehe nicht. Selbst, wenn der Junge das Bett wieder verlassen kann, muss er noch drei Monate auf Krücken laufen, also ist eine Operation an den Händen so lange nicht möglich. Samuel nimmt diese Nachricht erstaunlich gefasst auf – er freut sich, nächste Woche auf Krücken wieder zur Schule gehen zu dürfen. Und er weiß: Wenn das Bein wieder richtig gesund ist, dann wird Dr. Beine auch seine Hände operieren, dann wird er noch viel besser Cricket spielen können.

„Bei uns dürfen die Kinder ihre Kindheit genießen“, stimmt der Arzt aus Deutschland dem Jungen zu: „Auch wenn er schon etwas älter ist, aber er hat noch so viel nachzuholen aus der Zeit, die ihm in seiner Kindheit geraubt wurde.“ Die Flausen in Samuels Kopf – der Junge möchte unbedingt Cricket-Profi werden – treibt er ihm nicht aus, im Gegenteil: „Ihre Träume sollen sie genießen, solange sie noch jung sind. Die Realität wird noch früh genug auf sie zukommen.“

Samuel und die anderen Kinder von Sivananda werden auf das harte Leben in Indien vorbereitet sein: Mit einer Schul- und Berufsausbildung werden sie alle ihren Weg machen. Und weil sie ihre Hände auch wieder benutzen können, werden sie nicht mehr als „Leprakranke“ abgestempelt, ausgestoßen und diskriminiert.