16. November 2021

Offener Brief: Keine Rüstungsexporte für gesamte Jemen-Militärkoalition

Über 24 Millionen Jemenit*innen, davon über 11 Millionen Kinder, sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Foto: Dr. Yassin AlQubati / DAHW

Ein breites Bündnis von 40 zivilgesellschaftlichen Organisationen, darunter auch die DAHW, fordert die geschäftsführende Bundesregierung und die Koalitionsverhandlungen führenden Parteien SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP in einem Offenen Brief am 16. November 2021 dazu auf, den Rüstungsexport- und genehmigungsstopp für Saudi-Arabien zu verlängern und auf die gesamte Militärkoalition im Jemen auszuweiten.

Die unterzeichnenden Organisationen fordern ein umfassendes und zeitlich nicht befristetes Rüstungsexportverbot für alle Mitglieder der von Saudi-Arabien geführten Militärkoalition, solange diese am bewaffneten Konflikt im Jemen beteiligt sind oder die Gefahr besteht, dass auch deutsche Rüstungsgüter zu Menschen- und Völkerrechtsverletzungen im Jemen beitragen. Zudem fordern sie die Abschaffung von bestehenden Ausnahmen, wie Exporten im Rahmen europäischer Gemeinschaftsprojekte.

Darüber hinaus appellieren die Organisationen an die geschäftsführende sowie die zukünftige Bundesregierung, aufbauend auf einer Entschließung des Europäischen Parlaments, sich neben einem nationalen Rüstungsexportverbot auch für ein EU-weites Waffenembargo gegen alle Mitglieder der von Saudi-Arabien angeführten Militärkoalition im Jemen einzusetzen.

Das Bündnis vereint eine große Gruppe der in Deutschland aktiven Zivilgesellschaft: die Friedensbewegung, Hilfs- und Entwicklungsorganisationen sowie Menschenrechts-organisationen und weitere. „Wir sprechen mit einer Stimme und richten uns mit Nachdruck an die geschäftsführende Bundesregierung, aber genauso an SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP. Tagtäglich verletzten die Kriegsparteien im Jemen die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht.  Gleichzeitig genehmigte die Bundesregierung von 2015 bis 2020 für Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und weitere Mitglieder der von Saudi-Arabien angeführten Militärkoalition Rüstungsexporte im Wert von insgesamt über sieben Milliarden Euro. In den ersten acht Monaten des Jahres 2021 wurden weitere Exporte von mindestens 180 Millionen Euro genehmigt“, kritisieren die Organisationen.

Sie erinnern zudem eindringlich daran, dass den Preis dieses Krieges Millionen Kinder, Frauen und Männer zahlen, deren Lebensgrundlage vollständig zerstört ist: Über 24 Millionen Jemenit*innen, davon über 11 Millionen Kinder, sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Aktuell steht der Jemen vor der schlimmsten Ernährungskrise seit der Eskalation der Kämpfe im März 2015.


Der Offene Brief im Wortlaut

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel,
sehr geehrter Herr Vizekanzler und Bundesminister der Finanzen Scholz,
sehr geehrter Herr Bundesminister des Inneren Seehofer,
sehr geehrter Herr Bundesminister des Auswärtigen Maas,
sehr geehrter Herr Bundesminister für Wirtschaft und Energie Altmaier,
sehr geehrte Frau Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz Lambrecht,
sehr geehrte Frau Bundesministerin der Verteidigung Kramp-Karrenbauer,
sehr geehrter Herr Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Dr. Müller,
sehr geehrter Herr Bundesminister für besondere Aufgaben Dr. Braun,
sehr geehrte Frau Annalena Baerbock
sehr geehrter Herr Robert Habeck,
sehr geehrter Herr Christian Lindner,

wir, die unterzeichnenden Organisationen, begrüßen das Engagement der scheidenden Bundesregierung als humanitärer Geber und nehmen ihre Bemühungen als politischer Akteur zur friedlichen Beilegung des bewaffneten Konflikts im Jemen zur Kenntnis.

Vor diesem Hintergrund begrüßen wir den Beschluss von Dezember 2020, bereits erteilte Rüstungsexportgenehmigungen für Saudi-Arabien grundsätzlich zu widerrufen und bis zum 31.12.2021 grundsätzlich keine Neuanträge für Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien zu genehmigen. Ebenso begrüßen wir, dass die Verständigung zu Gemeinschaftsprogrammen mit Bezug zu Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten bis Ende des Jahres 2021 verlängert wurde.

Wir, die unterzeichnenden Organisationen, fordern erneut, den Rüstungsexport- und genehmigungsstopp für Saudi-Arabien zu verlängern und weitere wirksame Schritte zu unternehmen, um den Nachschub an Rüstungsgütern für den Krieg im Jemen zu unterbinden. Denn wir kritisieren abermals, dass der bisherige Beschluss nur für Saudi-Arabien gilt und außerdem Ausnahmen zulässt. Zudem kritisieren wir, dass die Verständigung für europäische Gemeinschaftsprogramme bezüglich Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate ebenso Ausnahmen zulässt. Dass diese Ausnahmen genutzt werden, bestätigte die Bundesregierung  auf parlamentarische Anfragen: Von Oktober 2020 bis September 2021 genehmigte die Bundesregierung Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien im Wert von rund 33 Mio. Euro im Rahmen von Einzelausfuhrgenehmigungen für Gemeinschaftsprogramme.[1][2]

Seit mittlerweile fast sieben Jahren herrscht Krieg im Jemen. Die Militärkoalition unter Führung Saudi-Arabiens, der u.a. die Vereinigten Arabischen Emirate angehören, ist eine der Kriegsparteien. Die Kampfhandlungen haben direkt über 100.000 Menschen das Leben gekostet, weitere 130.000 Menschen indirekt.[3] Über vier Millionen Menschen mussten innerhalb des Landes fliehen[4], davon mindestens 1,6 Millionen Kinder.[5] Die humanitäre Lage im Land, verstärkt durch die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie, ist ungemindert dramatisch: Über 24 Millionen Jemenit*innen, davon über 11 Millionen Kinder, sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Aktuell steht der Jemen vor der schlimmsten Ernährungskrise seit der Eskalation der Kämpfe im März 2015. Zudem ist der humanitäre Zugang zu notleidenden Bevölkerungsgruppen in vielen Fällen stark eingeschränkt.

Die Expertengruppe der Vereinten Nationen für den Jemen (GEE Yemen) hat im September 2021 allen Kriegsparteien eklatante Verletzungen des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte vorgeworfen und alle Länder aufgefordert, Waffenlieferungen und militärische Unterstützung an die Konfliktparteien einzustellen.[6][7]

Das Europäische Parlament hat in seiner jüngsten Entschließung zur Umsetzung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik erneut an die Mitgliedstaaten appelliert, die Rüstungsexporte an Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate zu stoppen, „die sie nur zu Mitschuldigen an der Fortsetzung des Konflikts und der Verlängerung des Leidens des jemenitischen Volkes machen“ und gefordert, „gezielte Sanktionen gegen Amtsträger in Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten einzuführen, die an mutmaßlichen Kriegsverbrechen beteiligt waren“.[8]

Vor diesem Hintergrund und angesichts der eindeutigen Gefahr, dass auch mit deutschen Rüstungsgütern die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht im Jemen verletzt werden, stehen Rüstungsexporte in Länder der Militärkoalition im Jemen im eklatanten Widerspruch zu den Politischen Grundsätzen der Bundesregierung sowie nationalen, europäischen und internationalen rechtlichen Verpflichtungen, wie dem Gemeinsamen Standpunkt der Europäischen Union und dem Internationalen Waffenhandelsvertrag.[9]

Daher fordern wir Sie als Mitglieder der geschäftsführenden bzw. der künftigen Bundesregierung auf:

  • Verhängen Sie ein umfassendes und zeitlich nicht befristetes Rüstungsexportverbot gegenüber allen Mitgliedern der von Saudi-Arabien angeführten Militärkoalition im Jemen, solange diese an dem bewaffneten Konflikt im Jemen beteiligt sind oder die Gefahr besteht, dass auch deutsche Rüstungsgüter zu Menschen- und Völkerrechtsverletzungen im Jemen beitragen. Dieses Exportverbot darf keinerlei Ausnahmen, etwa für bereits erteilte Genehmigungen, Reexporte, europäische Kooperationen oder Komponentenlieferungen im Rahmen europäischer Gemeinschaftsprojekte, enthalten.
  • Setzen Sie sich, aufbauend auf der Entschließung des Europäischen Parlaments, für ein EU-Waffenembargo gegen alle Mitglieder der von Saudi-Arabien angeführten Militärkoalition im Jemen ein.

Mit freundlichen Grüßen,
die unterzeichnenden Organisationen

Nationale Organisationen und Bündnisse

Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!
Aktion gegen den Hunger
Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF)
Aktiv für Frieden Bad Kreunach
Ärzte der Welt e.V.
Berliner Initiative Legt den Leo an die Kette
Bremer Friedensforum
Bund für soziale Verteidigung
Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz
Church and Peace e.V.
Dachverband der Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre
Deutsche Franziskanerprovinz
Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK)
Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe e. V. (DAHW)
Deutsche Sektion der Women's International League for Peace and Freedom (WILPF)
Deutscher Caritasverband e.V.
Essener Friedensforum
European Center for Constitutional and Human Rights e.V. (ECCHR)
Frauennetzwerk für Frieden e.V.
Friedensausschuss der Deutschen Jahresversammlung der Religiösen Gesellschaft der Freunde (Quäker)
Friedensfestival Berlin e.V.
Friedensglockengesellschaft Berlin e.V.
Friedensgruppe der Evangelischen Französisch-Reformierten Gemeinde Frankfurt/Main
Internationale Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzt*innen in sozialer Verantwortung e.V (IPPNW)
Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.
NaturFreunde Deutschlands
Netzwerk am Turm e.V. Bad Kreuznach
Ohne Rüstung Leben
Osnabrücker Friedensinitiative OFRI
Oxfam Deutschland
pax christi – Deutsche Sektion e.V.
Plattform Zivile Konfliktbearbeitung
RüstungsInformationsBüro
terre des hommes Deutschland e.V.
urgewald
Zentrum Oekumene

Internationale Organisationen

ACAT France - ACTION DES CHRÉTIENS POUR L'ABOLITION DE LA TORTURE
Cairo Institute for Human Rights Studies (CIHRS)
PAX (Pax for Peace Netherlands)
Salam For Yemen


[1]https://dserver.bundestag.de/btp/19/19232.pdf#P.29920, Frage 41

[2]https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Parlamentarische-Anfragen/2021/09/9-81.pdf?__blob=publicationFile&v=4

[3]https://news.un.org/en/story/2020/12/1078972

[4]https://reliefweb.int/report/yemen/unhcr-yemen-2021-country-operational-plan

[5]https://www.unicef.org/emergencies/yemen-crisis

[6]https://www.ohchr.org/EN/HRBodies/HRC/RegularSessions/Session48/Documents/A_HRC_48_20_AdvanceEditedVersion.docx

[7] Dass der VN-Menschenrechtsrat am 7.Oktober 2021 gegen die Verlängerung des Mandats der GEE Yemen gestimmt hat, bedeutet einen großen Rückschlag für die Opfer des Konfliktes und die Untersuchung und Aufarbeitung begangener Kriegsverbrechen.

[8]https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0012_DE.html, Punkt 32

[9]mindestens Punkt III, Nr. 9 der Politischen Grundsätze der Bundesregierung, § 6 Kriegswaffenkontrollgesetz, Artikel 2, Abs. 2, Kriterium 2, c des Gemeinsamen Standpunkt der EU zu Rüstungsexporten und Art. 6 und 7 des Internationalen Vertrags über den Waffenhandel (ATT).