25. Oktober 2014

Porträt: „Ich wollte nie nach Brasilien…“

Manfred Göbel ist unermüdlich im Einsatz für Menschen, die an Lepra leiden

Mehr als 200.000 Menschen verdanken ihm, dass sie ein normales Leben führen können – nicht wenige davon, dass sie überhaupt noch leben. Sie wissen zwar, dass an Lepra direkt keiner stirbt, „aber wer weiß, was geschehen wäre, wenn die Krankheit sich in meinem Körper weiter ausgebreitet hätte“, sagt Oswaldo Amorin.

Der 65-Jährige hat vor knapp 30 Jahren die Diagnose bekommen, die sein Leben verändert hat: Lepra. Noch kurz zuvor wäre er deportiert worden in eine der Lepra-Kolonien im dichten Urwald. Ein Gefängnis, zwar etwas komfortabler, aber doch ein Gefängnis, denn eine Wahl hätte er nicht gehabt. Familien wurden getrennt durch das Gesetz, das vorschrieb, alle Leprakranken in Kolonien zu verbannen. Aus den Augen, aus dem Sinn, war die Devise noch bis 1984.
Und es war auch die Zeit, in der Lepra seit einigen Jahren heilbar war und sich alle Länder daran machten, die Krankheit zu „eliminieren“: Wie viele andere Patienten wurde Oswaldo Amorin nach einem Jahr Therapie als „gesund“ einfach in sein Leben zurück geschickt. Niemand hat ihm gesagt, worauf er aufpassen müsse und welche Gefahren durch die Folgen der Lepra drohen.

Erst durch Manfred Göbel hat er vor drei Jahren erfahren, was Lepra wirklich bedeutet. Der Mann, der seit 35 Jahren für die DAHW Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe in Brasilien arbeitet, hat viele Patienten wie Oswaldo Amorin erlebt: „Man hätte ihm schon damals sagen müssen, wie er seine Hände und Füße vor den Schädigungen als Folge der Lepra schützen kann.“ Doch niemand hat ihm gesagt, dass die harte Arbeit an den heißen Brennöfen in der Ziegelei wohl die schlechteste Tätigkeit für einen ehemaligen Lepra-Patienten ist. So kam Oswaldo Amorin vor einigen Jahren in die Poliklinik nach Varzea Grande. Dort, wo Manfred Göbel oft zu Besuch ist, die Mitarbeiter des Lepra-Programms genau kennt, und er seine Frau kennengelernt hat, die hier viele Jahre lang als Lepra-Ärztin gearbeitet hat.

Dort hat Manfredo, wie er hier nur genannt wird, seine Frau kennengelernt. In dem Land, in das er eigentlich gar nicht wollte und zu einer Zeit, als er eigentlich wieder Nachhause oder in ein anderes Land fahren wollte. Gott hatte wohl einen anderen Plan für mich als ich selbst“, sagt Manfredo heute. Sein eigener Plan sah ungefähr so aus: Nach der Ausbildung zum Krankenpfleger wollte er als Entwicklungshelfer in Afrika arbeiten. Allerdings nicht mit Leprakranken, weil er darüber zu viel gehört hatte und nichts Gutes.
Doch dann kam das Angebot der DAHW, als Leprahelfer nach Brasilien zu gehen. „Ich kann es ja mal für ein oder zwei Jahre versuchen“, dachte Manfredo und sagte zu. Gerade angekommen, wurde er gleich in eine Leprakolonie geschickt. Es war Karneval, und Manfredo wurde zum Tanz aufgefordert. Von einer Patientin.

„Ich hatte schon Angst“, erinnert er sich 35 Jahre später an seinen ersten persönlichen Kontakt mit Lepra-Patienten: „aber ich sagte mir, wenn ich das nicht mache, werde ich die Menschen, für die ich da sein sollte, niemals erreichen. Später sagte mir die junge Frau, eine ehemalige Schönheitskönigin, dass dies ein Test war und ich ihn bestanden hatte.“
Schnell sprach es sich herum in Mato Grosso, diesem Bundesstaat, in dem heute noch so viele Menschen an Lepra erkranken wie an kaum einem anderen Ort der Welt, dass da ein Mann aus dem fernen Deutschland war, der sich um die Leprakranken kümmert. „Die Menschen haben mir vertraut, und so erzählten sie mir auch von Lazaro.“

Lazaro da Silva lebte in der Nähe von Rondonopolis, weit entfernt von allen Siedlungen in einer armseligen Hütte. Er war stark von Lepra gezeichnet, konnte auf seinen Füßen nicht stehen und mit seinen Händen nicht greifen. Seine Familie hatte ihn versteckt, damit er nicht in die Kolonie musste und sie brachten ihm ein Mal pro Tag Essen.

Aber sonst? Manfred Göbel blickt heute noch traurig, wenn er sich erinnert: „Ich hatte in den ersten Monaten schon viel erlebt, aber das schlug mir erstmal auf den Magen. Die Hütte war total verwahrlost. Die Enkelin stellte ihm seine Mahlzeit vor die Tür und Lazaro kam auf allen Vieren heraus, wie ein Hund musste er essen.“

Manfredo fing an, die Hütte zu reinigen und zu renovieren und bat alle Bekannten, ihm dabei zu helfen. „Ein bekanntes Model half dabei und meinte, dass sie doch mithelfen müsse, wenn schon jemand dafür extra den weiten Weg aus Deutschland gemacht hätte. Ab diesem Zeitpunkt hatte ich immer genügend Menschen, die mir halfen.“ Gleichzeitig versorgte er Lazaro da Silva mit Medikamenten und Physiotherapie, besorgte ihm orthopädische Schuhe und weitere Hilfen, damit er auch ohne Finger greifen konnte.

Ganz so schlimm steht es um Oswaldo Amorin nicht, aber auch er hat inzwischen orthopädische Schuhe bekommen, ein Mal pro Woche kommt er zur Physiotherapie in die Poliklinik. „Ich kann meine Finger wieder bewegen, Tassen oder Besteck greifen“, erzählt er stolz von den kleinen Erfolgen.
Die Sozialarbeiterin des Lepraprogramms hat ihm geholfen, dass er nun eine Rente bekommt, nicht mehr in der Ziegelei arbeiten muss. Und jedes Mal, wenn er hier ist, bedankt er sich bei den Menschen, die ihm geholfen haben. Ganz besonders natürlich bei Manfredo, denn der koordiniert diese Arbeit, wie man in Mato Grosso überall erfahren kann.

Diese vielen kleinen Hilfen für Lepra-Patienten, die einzeln fast verpuffen, wirken koordiniert als große Unterstützung. So kann – wie Lazaro da Silva vor fast 35 Jahren – nun auch Oswaldo Amorin ein selbstbestimmtes Leben führen. Wie Zigtausende zwischen diesen beiden können sie nun leben wie jeder andere Mensch auch, der eben nicht an Lepra erkrankt war.