22. März 2011

Tuberkulose: „Bist Du arm, musst Du sterben!“

Interview mit Dr. Ary van Wijnen

Die Zahlen sind erschreckend: 9,4 Mio. Menschen sind im Jahr 2009 an Tuberkulose erkrankt, 1,7 Mio. Patienten sind daran gestorben. Tuberkulose, früher auch „Schwindsucht“ genannt, ist auch heute noch die am häufigsten zum Tode führende – heilbare – Infektionskrankheit.

Der Skandal ist, dass die Krankheit eigentlich heilbar ist, sofern ein Patient die Behandlung bezahlen kann. Eine Krankenversicherung wie in Deutschland ist in vielen Ländern nicht selbstverständlich – vor allem dort, wo TB am häufigsten in Erscheinung tritt. TB ist als Krankheit der Armut auch in armen Ländern ein großes Problem.

Dr. Ary van Wijnen, Mediziner der DAHW Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe, kennt dies aus eigener, langjähriger Erfahrung: Schon als junger Arzt war Dr. van Wijnen gemeinsam mit Albert Schweitzer in Lambarene und konnte dort den fatalen Teufelskreis von Armut und Krankheit beobachten.


Dr. van Wijnen, in welchen Ländern ist das Tuberkulose-Risiko besonders hoch?
Die Hochrisiko-Länder sind Indien mit mehr als 2 Mio. Neuerkrankungen pro Jahr und China mit 1,8 Mio. In Südafrika, Nigeria, Indonesien, Pakistan, Bangladesch, Äthiopien, Philippinen, Kongo, Myanmar, Vietnam und Kenia erkranken jeweils bis zu 450.000 Menschen. Dazu kommen noch Afghanistan, Brasilien, Kambodscha, Mosambik, Thailand, Uganda, Tansania und Simbabwe mit jeweils knapp 100.000 Neuerkrankungen jährlich.

Das alles hört sich sehr weit entfernt an, obwohl schon einige sehr beliebte Urlaubsländer auf dieser Liste sind. Die höchsten Zuwachsraten in den vergangenen Jahren gab es jedoch in Osteuropa, also ganz nah bei uns: Mit rund 150.000 Neuerkrankungen pro Jahr ist Russland sogar auf der Liste der 22 Hochrisiko-Länder. Dort und in vielen weiteren Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion ist TB inzwischen ein ernsthaftes Problem im Gesundheitswesen, ganz besonders die multiresistente Form.
Insgesamt haben wir 22 Risikoländer, in denen 80% aller Neuerkrankungen auftreten.


Wie gefährlich ist es, in diese Länder zu reisen?

Obwohl wir hier von einer hoch ansteckenden Krankheit reden, die ähnlich wie eine Grippe durch Tröpfcheninfektion übertragen wird, ist es kaum gefährlich. Bedenkt man jedoch die fast schon panischen Reaktionen der Behörden bei der Vogel- und Schweinegrippe, finde ich die Vernachlässigung der TB fast schon fahrlässig.

Zum Glück führen nur wenige Infektionen auch zu einer Erkrankung und die TB-Bakterien sterben sehr schnell im Sonnenlicht, so dass man mit nur wenigen Vorsichtsmaßnahmen doch sehr sicher reisen kann.


Was sollte man als Tourist in diesen Ländern unbedingt beachten?
Grundsätzlich ist Tuberkulose eher ein Problem in dicht bewohnten städtischen Gegenden, besonders in den Slums der Millionenstädte. Auf dem Land oder den typischen Touristenzielen ist die Krankheit nicht ganz so weit verbreitet. Wer aber die traditionellen Märkte in größeren Städten besucht, der sollte vorsichtig sein.

Meiden Sie größere Menschenmengen besonders in geschlossenen Räumen. Die TB-Bakterien übertragen sich auch durch die Luft, sterben allerdings schnell durch UV-Licht. Bei Sonnenlicht besteht also kaum Gefahr. Ähnlich wie bei der Grippe können Sie auch durch eine erhöhte Hygiene oder mit häufiger Desinfektion der Hände die Gefahr einer Übertragung deutlich mindern.

In den Risikoländern sollten Sie nur das essen, was durchgegart wurde. Besonders durch Milch kann sich TB übertragen, daher sollte man auf Milchprodukte ganz verzichten, sofern man sich nicht sicher sein kann, dass sie pasteurisiert wurde. Auch durch Rindfleisch kann TB übertragen werden, daher sollte man Steaks nur gut durchgebraten essen.

Und halten Sie Ihr Immunsystem fit, zum Beispiel durch viel Obst und Gemüse, wenig Alkohol und Stress sowie ausreichend Schlaf und Ruhe. Schätzungsweise jeder dritte Mensch weltweit ist mit TB infiziert, die meisten werden jedoch niemals daran erkranken, weil ihr Immunsystem stark genug ist.


Kann man sich gegen TB impfen lassen?
Es gibt eine TB-Impfung, die allerdings kaum einen ausreichenden Schutz bietet. Für Kinder bis zum fünften Lebensjahr hingegen ist diese Impfung empfehlenswert, weil bei Kindern in diesem Alter das Immunsystem noch nicht komplett ausgebildet ist. Ältere Kinder, Jugendliche oder Erwachsene brauchen diese Impfung nicht.

Wie oft kommt TB in Deutschland vor?
In den vergangenen vier Jahren hatten wir stets eine Zahl zwischen 4.400 und 5.000 Neuerkrankungen pro Jahr. Das war schon mal anders: Vor zehn Jahren waren es noch 10.000 und vor 40 Jahren noch rund 50.000 neue Patienten. Damals gab es sogar noch Reihenuntersuchungen mit Röntgenbussen, weil TB in den Jahren nach dem Krieg eine der häufigsten Todesursachen in Deutschland war.

Heute stellt die Krankheit in Deutschland kein Problem mehr dar, hier muss sich niemand Sorgen machen, dass er sich anstecken könnte.

Im Gegenteil, die Zahl der Patienten in Deutschland reicht inzwischen kaum aus, um angehende Mediziner auch praktisch ausbilden zu können. Was junge Medizinstudenten in der Theorie über TB gelernt haben, können sie klinisch oft gar nicht umsetzen.

Wie kann es zu einer Ansteckung mit TB kommen?
Zunächst muss man Kontakt mit einem Menschen haben, der ansteckend ist. Die Bakterien werden auch durch die Luft übertragen, sterben jedoch bei UV-Licht sehr schnell ab. Meistens steckt man sich also an, wenn man mit Menschen, die an TB erkrankt sind, Kontakt in engen, dunklen Räumen hat. Das können Markthallen sein, aber auch Konzerthallen oder enge, überdachte Gassen in Altstädten. Die Gefahr ist aber nur dort groß, wo es entsprechend viele TB-Patienten gibt, also in den Risiko-Ländern.


Wie äußert sich eine TB-Erkrankung?
Akut ähneln die Symptome denen einer Grippe oder einer schweren Erkältung: Husten, Kraftlosigkeit, Gewichtsabnahme und Nachtschweiß, oft auch mit Fieber. Bei einer Grippe oder Erkältung ist dies allerdings nach einer Woche oft wieder vorbei. Halten einzelne dieser Symptome deutlich länger an, besteht ein Verdacht auf TB. Besonders auf den Husten sollte man achten: Hält er länger als drei Wochen an oder ist sogar ein blutiger Auswurf zu beobachten, ist die Gefahr von TB sehr groß.


Was sollte man bei einem Verdacht unternehmen?
Auf jeden Fall sollte man zu einem Lungenfacharzt gehen und dort auch den Verdacht äußern. Hat man in den vergangenen fünf Jahren Länder besucht, die zu den Risikogebieten zählen, sollte man dies unbedingt dem Arzt mitteilen.

Tuberkulose ist eine tödliche Krankheit – ohne rechtzeitige Behandlung stirbt jeder zweite Patient und jeder vierte behält bleibende Schäden zurück.


Wann ist man selbst ansteckend und wann nicht?

Nicht in jeder Phase der Erkrankung ist man auch ansteckend. Ob ein Patient ansteckend ist oder nicht, wird durch Untersuchung von Sputum-Proben festgestellt. Patienten müssen während ihrer Behandlung immer wieder Proben abliefern, um die Gefahr von Ansteckungen so gering wie möglich zu halten.

Wenn man also gar nicht weiß, ob man erkrankt ist, kann man auch nicht sagen, ob man ansteckend ist. Daher sind diese Menschen die größte Gefahr – besonders für ihre eigenen Familienangehörigen oder Freunde, die meist zu den ersten Menschen zählen, die man mit der tödlichen Krankheit ansteckt.

Muss man in Quarantäne?
Eine klassische Quarantäne gibt es nicht, aber sehr wohl einige Einschränkungen: Menschen in Lehr-, Erziehungs- oder Pflegeberufen dürfen in der Zeit, in denen sie ansteckend sind, ihren Beruf nicht in gewohnter Form ausüben. Für alle Patienten gilt, größere Gruppen in geschlossenen Räumen zu vermeiden. Die Gesundheitsämter klären die betroffenen Menschen darüber auf, sie sind auch verantwortlich für die Untersuchungen im Umfeld der Patienten.

Wie wird TB behandelt?
Tuberkulose wird mit einem Mix aus bis zu vier Antibiotika behandelt. Regelmäßig wird der Verlauf im Labor kontrolliert, um die Behandlung schnell ändern oder anpassen zu können. Die Medikamente müssen mindestens sechs Monate regelmäßig eingenommen werden, in den meisten Fällen ist der Patient nach acht Monaten Behandlung geheilt.


Gibt es Unterschiede bei der Behandlung in Deutschland und in Entwicklungsländern?
Grundsätzlich ist diese Therapie weltweit standardisiert. Allerdings hat man in Deutschland den Vorteil, dass die Medikamente immer und überall verfügbar sind oder zumindest sehr schnell geliefert werden. In Entwicklungsländern ist das eine der großen Herausforderungen.
Außerdem haben wir in Deutschland die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sowie Krankenkassen, die sämtliche Kosten übernehmen, so dass die Patienten hier kaum mit Einbußen durch ihre Krankheit rechnen müssen.

Am Deutlichsten werden die Unterschiede bei der Diagnose: Durch den hohen Standard bei unseren Laboren werden Resistenzen sehr schnell erkannt. In diesen Fällen wirkt die Standard-Therapie nicht mehr und die Ausweichmedikamente sind sehr teuer – in Entwicklungsländern oft zu teuer.


Behält man bleibende Schäden zurück?
Ohne Behandlung bleiben mit hoher Wahrscheinlichkeit Schäden zurück – sofern man die Krankheit überlebt. Aber auch Patienten, die den Arztbesuch zu lange hinaus zögern, können Schäden behalten. Bei der Lungen-TB, übrigens die häufigste Form dieser Krankheit, zum Beispiel eine dauerhaft eingeschränkte Funktion der Lunge oder bei der seltenen Rückenmark-TB Lähmungen.

Die Krankheit kann fast jedes Organ befallen und dort Schäden anrichten, die aber bei rechtzeitiger Behandlung nicht von Dauer sind.


Was passiert, wenn man die Behandlung abbricht?
In 46 Berufsjahren als Arzt habe ich mich nur selten aufgeregt, wenn ein Patient meine Anweisungen nicht befolgt hat – meistens schadet man sich damit ja nur selbst. Die Ausnahme ist eine Behandlung mit Antibiotika: Wenn diese Medikamente nicht regelmäßig bis zum Schluss eingenommen werden, bilden die überlebenden Bakterien Resistenzen und machen dieses Antibiotikum später wirkungslos.

Besonders bei der TB-Behandlung gilt daher: Eine unregelmäßige Einnahme oder gar ein Abbruch der Behandlung ist nicht nur für den Patienten selbst lebensgefährlich, sondern auch für alle Menschen, die er mit der Krankheit ansteckt.

Alle Resistenzen, die wir kennen, sind aus diesem Grund von Menschen selbst produziert worden und stellen die Medizin vor immer größere Herausforderungen. Inzwischen erkranken jedes Jahr mehr als 500.000 Menschen an der „MDR-TB“ der multiresistenten Form der Tuberkulose. Deren Erreger sind gegen mindestens zwei Medikamente der Standard-Therapie resistent, die Behandlung wird komplizierter, länger und vor allem viel teurer.

Durch Therapieabbrüche von MDR-Patienten ist die „XDR-TB“ entstanden, deren Erreger auch gegen Ausweichmedikamente resistent sind. Inzwischen gibt es Formen der Tuberkulose, die aufgrund der Resistenzen nicht mehr behandelbar sind. Diesen Patienten können wir nur noch Palliativmedizin anbieten.

Warum Menschen die Therapien abbrechen, hat verschiedene Ursachen: In unseren reichen Ländern ist es oft Bequemlichkeit oder Ignoranz gegenüber den ärztlichen Anweisungen. In Entwicklungsländern liegen die Ursachen oft in der fehlenden Bildung gepaart mit aktueller Not: Das Wissen über die Gefahr von Resistenzen fehlt und man fühlt sich nach drei bis vier Wochen Behandlung auch wieder gesund, während die Einnahme der Medikamente oft zum Ausfall von Arbeitstagen führt, den sich die Menschen einfach nicht leisten können. Hier hat die DAHW bereits vor einigen Jahren damit begonnen, mit speziellen Programmen die Zahl der Abbrecher zu verringern. Allerdings kosten auch diese Programme Geld und können daher (noch) nicht überall durchgeführt werden.

Ein Sonderfall war der Zusammenbruch der Gesundheitswesen in Osteuropa: Während des Umbruchs ist es in den ehemals sozialistischen Ländern zu Versorgungsengpässen in den vorher funktionierenden Gesundheitssystemen gekommen. Als Folge konnten viele TB-Patienten ihre Medikamente ohne eigenes Verschulden nicht mehr einnehmen. Heute haben viele dieser Länder die höchsten Anteile an resistenten TB-Erkrankungen.

Was macht man, wenn man bereits an der resistenten TB erkrankt ist?
Als armer Mensch in einem Entwicklungsland muss man darauf hoffen, dass ein Hilfswerk wie die DAHW noch genügend Geld im Budget hat, die teuren, weil patentrechtlich geschützten Medikamente zu bezahlen. In diesen Ländern gilt oft: Bist Du arm, musst Du sterben! Bei MDR-TB noch schlimmer als bei vielen anderen Krankheiten, weil es die Medikamente ja gibt, sofern man sie bezahlen kann.

In Deutschland werden auch die teuren Medikamente von den Krankenkassen bezahlt, nur wird die Behandlung deutlich länger werden, sie kann bis zu zwei Jahre dauern. Dazu haben viele Ausweichmedikamente mehr Nebenwirkungen als die der Standard-Therapie. Auch die Diagnose ist in Deutschland kein großes Problem, es gibt genügend gut ausgerüstete Labore, die vorhandene Resistenzen nachweisen können und sogar zwei, die sie auch genau diagnostizieren, so dass auch frühzeitig die richtigen Antibiotika ausgesucht werden können.

Auch das sieht in Entwicklungsländern anders aus: Zumeist sind wir schon froh, wenn es überhaupt Labore zur Diagnose der einfachen TB gibt und oft müssen wir sie erst selbst einrichten. Eine genaue Diagnose der Resistenzen setzt nicht nur eine sehr teure Ausstattung voraus, sondern auch sehr gut ausgebildetes Personal. Und wenn wir die Menschen derart gut ausbilden, bekommen sie ganz schnell hoch dotierte Jobangebote im Ausland – zumeist von den Unternehmen, die mit den Preisen für ihre Medikamente Verantwortung dafür tragen, dass so viele Menschen an resistenter TB sterben müssen.

Was raten Sie Angehörigen, die mit einem Erkrankten in Kontakt gekommen sind?
Keine Panik! Klingt jetzt einfach und ist es auch. Fragen Sie doch mal Ihre Eltern oder Großeltern, die den Krieg und die Nachkriegszeit erlebt haben, als TB auch in Deutschland eine der häufigsten Todesursachen war. Und damals war die als „Schwindsucht“ bezeichnete Krankheit noch gar nicht heilbar! Nicht nur die abgemagerten Patienten mussten „aufgepäppelt“ werden, sondern auch die Angehörigen, so konnte man deren Erkrankung verhindern.

Heute werden Kontaktpersonen wie Angehörige und gute Freunde auch gleich untersucht, manchmal auch Arbeitskollegen. Tuberkulose ist eine meldepflichtige Krankheit nach dem Seuchengesetz, schließlich will man ja verhindern, dass sie sich in Deutschland auch wieder ausbreitet. Aber an den Pranger gestellt oder wie früher in ein „Waldkrankenhaus“ abgeschoben wird man nicht.

Grundsätzlich gelten für Angehörige die gleichen Vorsichtsmaßnahmen wie auch für Touristen, die in Risikoländer reisen: Besser in der Sonne als in geschlossenen Räumen aufhalten, viel Obst und Gemüse essen, viel – aber nicht zu viel – Bewegung, viel Schlaf und Ruhepausen, also alles, was wir Mediziner auch sonst für ein gesundes und langes Leben empfehlen.


Der gebürtige Niederländer Dr. Ary van Wijnen (74) hat in Groningen Medizin studiert und war bereits als Student in Lambaréné, um von Albert Schweitzer zu lernen. Als junger Arzt hat er noch sechs Monate mit den Friedensnobelpreisträger zusammen gearbeitet, später war Dr. van Wijnen ärztlicher Direktor des berühmten Hospitals in Lambaréné.


Zeit Lebens war Dr. van Wijnen der Entwicklungszusammenarbeit verbunden: Von Lambaréné ging er nach Haiti und sammelte weitere Erfahrungen in der Tropenmedizin. Auch aufgrund seiner Arbeit mit Lepra und Tuberkulose wurde er später medizinischer Leiter der DAHW Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe. Auch nach seinem Eintritt in den Altersruhestand ist Dr. van Wijnen weiterhin als medizinischer Berater für die DAHW aktiv und bringt dort vor allem seine reichhaltige Erfahrung ein.

Ende 2009 war Dr. van Wijnen als einer der letzten Zeitzeugen Ehrengast bei der Premiere des Films über das Leben von Albert Schweitzer. In zahlreichen Kinos und Schulen hat er besonders jungen Menschen die Notwendigkeit der Entwicklungszusammenarbeit näher bringen können.


Text: Jochen Hövekenmeier