24. März 2017

WTT 2017: Trotz TB - Die Fülle des Lebens genießen

Der Welt-Tuberkulose-Tag von Dr. Chris Schmotzer in Pakistan
„Man darf das Gute im Menschen nicht so ernst nehmen und sich vom Schlechten nicht entmutigen lassen.“ Dr. Chris Schmotzer, Ordensfrau und Ärztin in Rawalpindi

Ihren hellen Pashmina-Schal zieht sie tiefer ins Gesicht. Schon wieder eine Militärkontrolle. Sie hofft inständig, dass sie nicht mit Polizeischutz weiterfahren muss. Denn das möchte sie ihren Patienten nicht antun. Eine bewaffnete Begleitung ist das Letzte, was sie auf ihren Fahrten in den Norden von Pakistan braucht. Denn die Menschen hier vertrauen der Ärztin aus Deutschland, der Polizei eben weniger. Das gehört zu ihrem Alltag.

Abbottabad, Nordpakistan. Dr. Chris Schmotzer ist auf dem Weg ins Kaghantal, einer Gegend, in der es häufig Erdbeben und Überschwemmungen gibt. Monatlich besucht sie für ein paar Tage ihre Patienten in dem kleinen Ort Balakot. Dort wird sie bereits erwartet. Frauen, Kinder, Männer. Es geht um Lepra- und Tuberkuloseuntersuchungen, aber auch um Familienplanung. Und die Frauen, besonders die, vertrauen ihr, denn die Gynäkologin kennt sich mit Geburtenkontrolle aus. Und nach dem sechsten oder siebten Kind reicht es auch mal. Ihre Arbeit wird seit vielen Jahren von der DAHW Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe e. V. unterstützt. Das in Würzburg ansässige Hilfswerk hat sich auch in der Nothilfe für die Erdbeben- und Flutopfer engagiert.

Die gebürtige Hersbruckerin plant ihren Tagesablauf, während sie durch die Scheiben des Wagens auf die Straßen des Ortes blickt, in dem einst der meistgesuchteste Terrorist der Welt getötet wurde. In einer Nacht- und Nebelaktion. Hohe Mauern, burgähnliche Häuser und viel Stacheldraht. Das ist hier Alltag. Die Lage ist noch sehr fragil. Ausländische Besucher werden überwacht, Hotelübernachtungen sind nicht möglich. Das alles betrifft die deutsche Ärztin nicht, denn sie hat einen Vertrauensvorschuss, den sie sich in fast 30 Jahren Tätigkeit in Pakistan erarbeitet hat.

Heute ist Welt-Tuberkulose-Tag. Für Dr. Schmotzer ist es ein Tag wie jeder andere. Wie immer Routine. Auch heute wird es in dem kleinen Bergdorf Reihenuntersuchungen geben, auch heute wird sie positive Befunde haben, auch heute wird sie mit der Tablettenverordnung beginnen. Wieder ein Kontrollposten. Der Beamte spricht kurz mit dem Fahrer, blickt in den Fond des Wagens und nickt der Ärztin zu. Durchwinken, weiterfahren. Die 61-Jährige denkt gerne an ihre Zeit in Deutschland zurück, an die heile Welt von Hersbruck, wo sie Schülerin am Paul-Pfinzing-Gymnasium war, an die Fußballspiele mit den Jungs an den Nachmittagen und an die Sommertage im Freibad mit den endlosen Runden im Pool.

Schwimmen ist noch heute ihre Leidenschaft, die sie in Pakistan kaum mehr ausleben kann. „Der Pool in der kanadischen Botschaft ist leider für Ausländer nicht mehr zugänglich, aus Sicherheitsgründen“, seufzt sie. Dafür joggt sie täglich morgens um 5 Uhr auf dem Gelände des Krankenhauses von Rawalpindi, wo sie die medizinische Leitung innehat. Eine halbe Stunde, gemeinsam mit Schäferhund Alex, dem treuen Begleiter und ständigen Garant für ein wenig Unabhängigkeit in einem Land, in dem es für Frauen unmöglich ist, sich frei zu bewegen. „Um fit zu bleiben“, lacht sie.

Dr. Schmotzer liebt die Natur, schon von klein auf. Sie blickt auf das enge Kaghan-Tal, das sich vor ihr auftut. Die Sonne scheint. „Das Wetter ist wichtig, bei Regen würde es kein Durchkommen geben.“ Bereits sehr früh wurde sie zur Selbständigkeit erzogen. Der Vater, ein Steuerbeamter, schickte sie schon früh zur Bank, um die Kontoauszüge zu holen. „Das fand ich toll, genau wie das Holzfällen im Wald oder die Gartenarbeit.“ Weniger gut fand sie, dass sie dafür schon am Spätnachmittag aus dem Schwimmbad nach Hause musste. Für ihre Mutter war der Gymnasiumbesuch des „Mädchens“ eher überflüssig. Die junge Chris biss sich durch. „Mit Nachhilfestunden in Latein, Mathe und Physik besserte ich mein karges Taschengeld auf.“

Vom Wunsch ihres Vaters, Steuerberaterin zu werden, war sie wenig begeistert. Ein Schlüsselerlebnis auf dem Weg zur evangelischen Ordensfrau war eine Veranstaltung der Christusträger in der Turnhalle. Statt Tischtennis fand eine christliche Jugendwoche statt. „Jeden Abend waren rund 1.000 Jugendliche da. Was für tolle Musik, Diskussionsrunden, Knabberzeug“, erinnert sich die evangelische Schwester noch heute sehr genau. Und daran, dass sie ihrer Mutter schon früh prophezeite, dass sie einmal Missionarin werde. „Sie war davon jedoch nicht begeistert“, schmunzelt die Fachärztin für Gynäkologie. Später dachte sie sogar darüber nach, aus der Kirche auszutreten. „Doch meinen Eltern hätte ich das nicht antun können.“ Es kam schließlich zum ‚Entweder Oder‘. Austreten und radikal Schluss machen oder sich zu Gott bekennen.

Letzteres überwiegte. Sie begann mit dem Pharmaziestudium in Erlangen. „Eigentlich wollte ich Chemie machen, doch damit waren die Berufsaussichten nicht gerade rosig.“ In den Ferien hospitierte sie bei den Christusträgern in der Nähe von Bensheim. „Ich wurde krank und musste für drei Wochen das Bett hüten. Wie dabei die Schwestern mit mir umgegangen sind, hat mich tief berührt.“ Sie begann, über ihr Leben nachzudenken. Einer von ihren geliebten Waldspaziergängen brachte schließlich die erhoffte Klarheit: „Es war, als ob Gott zu mir spricht“, erklärt es die Ärztin heute. „Dass ich eine Entscheidung treffen muss, zwischen Beruf, Familie und meinem christlichen Engagement.“ Am Ende wusste sie, was sie wollte: „Die Schwestern haben mich in keinster Weise beeinflusst, doch das Thema Familie war für mich nicht drin.“ Mit 20 Jahren trat sie in den Orden der Christusträger ein. „Die große Schwester spinnt“, äußerte sich der Bruder. „Auch die Eltern waren dagegen. Sie verglichen den Orden mit einer Sekte.“ Sie konnten es nicht verstehen. „Erst viel später, als ich fertige Ärztin war, haben sie meinen Weg akzeptiert. Das wäre sonst sehr schlimm für mich gewesen.“

Der Vorschlag ihrer Mitschwestern, Medizin zu studieren, fruchtete. „Ich war schon länger unzufrieden mit dem Pharmaziestudium. Nach dem Ferienjob in einer Apotheke wusste ich, dass das nicht meine Lebensaufgabe ist.“ Während des Medizin-Studiums an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg ab 1976 wohnte sie im Schwesternhaus in Bensheim und pendelte täglich. Der Wunsch, später einmal im Ausland zu praktizieren, festigte sich. „Ich bewarb mich um eine Famulatur im amerikanischen Militärkrankenhaus, um Englisch zu lernen. Das klappte auch ganz gut. Zusätzlich arbeitete ich im evangelischen Krankenhaus Salem in der chirurgischen Abteilung. Das praktische Jahr machte die Ordensfrau am Diakoniekrankenhaus in Schwäbisch Hall. „Das war zugleich ein akademisches Lehrkrankenhaus der Uni Heidelberg. „Dort habe ich sehr viel gelernt, da ich in allen Abteilungen tätig war. Das war super für meine Ausbildung.“ Während dieser Zeit wohnte sie im Hergershof, dem Schwesternhaus der Christusträger in Schwäbisch Hall. Im Team des Krankenhauses fühlte sie sich wohl. Nach dem Studium konnte sie als Assistenzärztin in der Chirurgie, Gynäkologie und Anästhesie arbeiten. Die Ausbildung schloss sie schließlich 1987 als Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe ab.

Und wieder war es ein Urlaub in freier Natur, der sie umdenken ließ. Diesmal mit den Mitschwestern im Schwarzwald. „Ich wollte ins Ausland“, bringt sie es heute auf den Punkt. Und da gab es diese Anfrage der Schwestern in Pakistan, als Lepraärztin. Außerdem ging es auch um die Verbesserung gynäkologischer Operationsmethoden. „Ich war Feuer und Flamme und sagte zu.“ Anfang 1988 folgten ein paar Praktikumswochen in einem Leprakrankenhaus im äthiopischen Addis. Zwei Monate später war sie in Pakistan. „ Sprache lernen, die mangelnde Bewegungsfreiheit, die vielen Patienten, die ständige Anpassung an schwierige kulturelle Angelegenheiten, die Bemühungen, möglichst keine Fehler dabei zu machen. Aber aufgeben wollte ich nie“, fasst es Dr. Schmotzer heute zusammen. Und später? Im Ruhestand? „Zurück nach Deutschland“, gibt sie zu, „aber nicht nur! Vielleicht eine neue Aufgabe im Ausland angehen oder zuhause, ein neues Studium oder das Wort Gottes verkünden.“ Sie lacht. Es gibt viele Möglichkeiten, die Fülle des Lebens zu genießen. „Dies einfach annehmen und die Chancen sehen.“

Der Wagen ruckelt über die unbefestigte Straße. Dr. Schmotzer ist vor der kleinen provisorischen Gesundheitsstation in Balakot angekommen. Ihr Zuhause für die nächsten drei Tage. Fünf Frauen warten schon auf sie. Und winken ihr zu, als sie aus dem Wagen steigt. Der Arbeitstag kann beginnen.

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