19. Januar 2024

„Kein Mensch hat heute noch Lepra“ – von wegen! Ein Blick in ein Rehabilitationszentrum in Indien

Global Health-Berater Anil Fastenau in Hyderabad: “Die Menschen stehen Tag für Tag an ihren Marktständen – trotz ihrer Geschwüre“ (Foto: AFU / DAHW)

Das Sivananda Rehabilitation Home in der indischen Stadt Hyderabad wird seit vielen Jahren von der DAHW Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe sowie ihrer indischen Partnerorganisation GLRA India finanziell unterstützt. DAHW-Global Health-Berater Anil Fastenau war kürzlich vor Ort, um sich ein Bild von der aktuellen Situation dort zu machen. Was er dort sah, so erzählt es der Arzt und Lepra-Experte, hat selbst ihn betroffen gemacht.

Würzburg / Hyderabad, 26.01.2023: Lepra, die „biblische Krankheit“, wird in Ländern des Globalen Nordens oft als etwas längst Vergangenes angesehen: eine Krankheit, die man mit dem Zeitalter des Neuen Testaments verbindet, mit dem Mittelalter vielleicht noch, aber nicht mit dem 21. Jahrhundert. Und tatsächlich ist Lepra in vielen Ländern der Erde heute nur noch ein vergleichsweise kleines Gesundheitsproblem. Doch das ist nicht überall so.

Im aufstrebenden Schwellenland Indien etwa wurden WHO-Zahlen zufolge allein im Jahr 2022 rund 104.000 neue Fälle von Lepra verzeichnet. Das ist mehr als die Hälfte aller Fälle weltweit. Die DAHW Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe unterstützt daher zahlreiche Projekte in Indien, darunter auch eine Einrichtung am Rande der Millionenmetropole Hyderabad: Das Sivananda Rehabilitation Home.

Anil Fastenau ist als medizinischer Berater für die DAHW viel unterwegs – allein im vergangenen Jahr besuchte er Projekte in Pakistan, Afghanistan, Indien und Kolumbien. Der Mediziner und Lepra-Experte kontrolliert dabei die Fortschritte der Arbeit, tauscht sich mit Kolleg:innen aus und prüft neue Ideen. Und so war er kürzlich auch im Sivananda Rehabilitation Home zu Besuch.

Anil, welche Gesundheitsdienstleistungen bietet diese Einrichtung an?
Eigentlich hat sich das Sivananda Rehabilitation Home, der Name sagt es schon, auf Rehabilitationsdienstleistungen spezialisiert. Es ist also für Menschen gedacht, die von Behinderungen betroffen sind, beispielsweise als Folge einer zu spät behandelten Lepra-Infektion. Aber das Zentrum hat einen sehr guten Ruf, auch, was Lepradiagnostik angeht, und deshalb kommen die Menschen auch, wenn sie eine akute Erkrankung vermuten. Denn anderswo bekommen sie oft keine Termine, werden vertröstet oder erhalten keine Medikamente. Im Sivananda Rehabilitation Home können sie sich darauf verlassen, dass sie untersucht und behandelt werden, mit Medikamenten versorgt werden und sogar etwas zu essen kriegen

Sie kommen also auch von weit her, manche nehmen Reisen von drei Tagen auf sich. Man muss sich bewusst machen: Allein in Sivananda wurden im vergangenen Jahr fast genauso viele Leprafälle erfasst wie in ganz Pakistan, mehr als 200 waren das. Die Dimensionen sind also ziemlich heftig – und das gilt auch für die Fälle selbst.

Wie meinst du das?
Viele Menschen in Indien, die von Lepra betroffen sind, zögern eine medizinische Behandlung hinaus, so lange es geht. Wenn sie sich dann doch vorstellen, weisen sie oft schon große Geschwüre auf, sie sind immunsupprimiert und meistens sehr krank. Sogar mich als erfahrenen Lepra-Experten hat es erschreckt, in welchem Zustand einige Patient:innen in der Klinik angekommen sind. Und das, während Menschen im Globalen Norden oft denken, Lepra gebe es gar nicht mehr.

Warum sind die Patient:innen dort so stark betroffen?
Es gibt eine Wechselwirkung zwischen Krankheit und Armut, gerade bei Lepra. Die Menschen, die in dieses Center kommen, haben oft ein sehr niedriges Einkommen. Sie sind teilweise unterernährt und sie müssen arbeiten, um zu überleben. Sie können also nicht einfach zwei Wochen Bettruhe einhalten, um etwa ihrem Fuß die Chance zur Heilung zu geben – dann sind sie ihren Job los und damit ihre Existenzgrundlage. Also stehen sie beispielsweise Tag für Tag an ihren Marktständen, trotz ihrer Geschwüre. Die Folge: Offene Wunden breiten sich aus, Bakterien dringen ein, die betroffenen Stellen entzünden sich immer weiter. In diesen Fällen, wenn die Patient:innen also wirklich nicht stationär im Zentrum bleiben können, sorgen die Kolleg:innen vor Ort mit regelmäßigen ambulanten Verbandswechseln zumindest dafür, dass sich die Heilung unter diesen Umständen bestmöglich entwickeln kann. Wenn die Menschen aber stationär aufgenommen werden können, trägt das – dank guter Ernährung, Schonung, hygienischen Verhältnissen, aber auch mittels rekonstruktiver Operationen und Physiotherapie – sehr dazu bei, ihre Lebensqualität zu verbessern.

Was haben dir die Patient:innen erzählt, mit denen du sprechen konntest?
Die Betroffenen, das merkt man im Umgang mit ihnen, haben als Folge ihrer Erkrankung nicht nur Wunden und Behinderungen, sie haben auch große psychosoziale Probleme. Lepra stellt die mentale Gesundheit vor extreme Herausforderungen: Die Patient:innen kämpfen mit chronischen Depressionen, mit Traumata, mit Angststörungen und Selbststigmatisierung. Man muss verstehen: Der Anblick dieser Wunden kann erschreckend sein, es handelt sich wirklich um großflächige, offene Geschwüre. Viele Menschen, die ich dort kennengelernt habe, haben sich sehr geschämt, sie wollten nicht einmal mich, einen Mediziner, an sich heranlassen. Diese mentalen Probleme wollen wir ab dem kommenden Jahr verstärkt angehen: Psychologische Beratung kann da schon sehr viel bewirken.


Das sagt die DAHW-Indien-Expertin Juliane Meißner:

„In Indien ist Lepra nach wie vor ein großes Gesundheitsproblem. Jüngste WHO-Zahlen weisen darauf hin, dass im Jahr 2022 fast 104.000 neue Lepra-Fälle in dem Land diagnostiziert wurden. Es ist allerdings davon auszugehen, dass es noch weitaus mehr undiagnostizierte Erkrankungen gibt. Wir unterstützen daher Projekte, die eine frühzeitige Erkennung von Leprainfektionen fördern, und nähern uns der Krankheit auf holistische Weise: Indem wir zum Beispiel den Zugang zu WASH (Wasser, Sanitäreinrichtungen, Hygienebedingungen) sowie zu medizinischen Leistungen verbessern, kann die Krankheitslast bei von Lepra betroffenen Menschen entscheidend gelindert werden. Die Unterstützung von Menschen mit Behinderungen spielt ebenso eine Rolle wie die Stärkung der Frauen – denn die Krankheit Lepra existiert nicht im luftleeren Raum. Sie hängt zusammen mit Lebensbedingungen, die geprägt sein können von Armut, beengten Wohnverhältnissen, mangelnder medizinischer Aufklärung, geschlechtsspezifischer Diskriminierung. All diese Aspekte nehmen wir in den Blick, um den Herausforderungen gerecht zu werden, die die Bekämpfung einer Krankheit in einem so vielfältigen Land wie Indien darstellt.“

Juliane Meißner ist bei der DAHW als Portfoliokoordinatorin zuständig für die Projektkonzeption und -durchführung in Indien. Sie steht in engem Kontakt mit den Mitarbeitenden vor Ort und konnte sich bei zahlreichen Besuchen selbst ein Bild von der Situation im Land machen.


 

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