06. Dezember 2023

Das, was im Kopf bleibt: Reportage aus Nigeria

Teilnehmer:innen einer von der DAHW unterstützten Selbsthilfegruppe in Ogoja, Nigeria (Foto: Toby Nwafor / DAHW)

Die DAHW Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe und ihre Partnerorganisation RedAid Nigeria setzen auf Selbsthilfegruppen und Beratung zu psychischer Gesundheit und seelischer Genesung. Ein spannender Ansatz - und der Versuch, Traumata zu mindern.

Menschen gesunden. Doch die Schrecken der Vergangenheit bleiben. Wie gehen von Lepra betroffene Menschen mit ihren Erlebnissen um? Mit Ausgrenzung, Zukunftssorgen und der Angst vor dem Alleinsein? Was wird von ihnen bleiben, wenn sie sich doch schon jetzt in nichts aufgelöst haben? Denn genauso fühlen sich Betroffene oft. In vielen Familien in Afrika ist der Zusammenhalt am wichtigsten – aber was passiert, wenn man nicht mehr dazugehört, weil man wegen einer Erkrankung ausgegrenzt wird?

Seelische Gesundheit – ein Meilenstein

Sich der seelischen Gesundheit ebenso widmen wie der körperlichen: Das ist der Ansatz, den die DAHW gemeinsam mit ihrer Partnerorganisation RedAid Nigeria in dem westafrikanischen Land verfolgt. Es gibt Bedarfe – mehr denn je. Denn Menschen mit psychischen Problemen gehören in vielen Ländern Afrikas nicht mehr zur Gesellschaft, dürfen sich nur noch am Rande bewegen, werden angefeindet und beschimpft. In der jüngeren Generation findet jetzt ein Umdenken statt. Doch wie werden die alten Menschen eingebunden, die, die seit Jahrzehnten die Folgen von Lepra, Buruli Ulcer und Tuberkulose ertragen müssen? Es sind stille Leiden, die vor aller Augen geschehen. Darüber zu sprechen ist für diese Altersgruppe ein Tabu. Ein neuer und behutsamer Ansatz soll RedAid Nigeria dabei unterstützen, diesen gravierenden Herausforderungen nachhaltig zu begegnen.

Ogoja, Ostnigeria. „Wir stehen noch ganz am Anfang mit unseren Erfahrungen“, sagt Dr. Okechukwu Ezeakile von RedAid Nigeria. „Es gehört zu unserer Kultur, keine Traumata zu zeigen, nicht darüber zu reden und das Erlebte möglichst allein zu bewältigen.“ Seit wenigen Monaten widmet sich die nigerianische Hilfsorganisation dem Aufbau von Selbsthilfegruppen für aktuelle und ehemalige Lepra-Patienten. Denn bei niemandem ist die Krankheit ohne psychische und seelische Folgen verlaufen. Die DAHW mit Sitz in Würzburg unterstützt das Vorhaben.

Begonnen wird mit Schulungen für das Gesundheitspersonal im katholischen Krankenhaus St. Benedict, wo sich eine Lepra-Selbsthilfegruppe zweimal pro Monat trifft. „Wir haben uns dem holistischen Ansatz verschrieben, bei dem Körper, Geist und Seele harmonieren“, sagt Priester und Verwaltungsleiter Joseph Macus Ogan von der Diözese Ogoja. „Wir brauchen Psychologen, die nach diesem Modell mit den Patienten zusammenarbeiten.“ Denn es gibt kaum von Lepra betroffene Menschen, die keine Stigmatisierung, Depressionen oder Panikattacken erleben. Aber sie schweigen. Bis jetzt zumindest.

Doch die Selbsthilfegruppe unterstützt und ermutigt sie, Unmögliches zu wagen und sich zu öffnen. Auch Fremden gegenüber. Es geht darum, dem Selbst wieder mehr Wert zu geben und Unterstützung annehmen zu können. Insgesamt sind es 93 Personen, mehr Frauen als Männer. Bis jetzt sind sie daran gewöhnt, alle Probleme bei sich zu belassen und zu versuchen, damit möglichst schmerzfrei umzugehen. Depressionen werden strikt verneint. Gibt man sie zu, stürzt es die Familien nicht selten in den Ruin. „Ein psychisches Problem zu haben, wird in unserer Gesellschaft nicht akzeptiert, schnell hat man den Ruf, verrückt zu sein“, erklärt der Priester.

„Wir beginnen mit einer vorsichtigen psychotherapeutischen Behandlung, ganz auf die jeweilige Person abgestimmt“, sagt Dr. Asinya Magnus: „So kommen wir am schnellsten an die wahren Probleme heran.“ Wenn die Betroffenen unter sich sind, wird geredet, geweint und gelacht. „Eine gewisse Gruppendynamik setzt ein, und die Angst, sich zu öffnen, ist viel geringer, als wenn sie sich unbekannten Außenstehenden anvertrauen sollen“, erklärt der Geistliche Ogan.

Selbsthilfegruppe zweimal monatlich

Prescilia Abaye fühlt sich endlich frei: „Hier treffe ich Menschen, denen es genauso ergangen ist wie mir, nämlich, ein Niemand zu sein", sagt die 70-Jährige. "Diese Krankheit kann dich auslöschen, so als hättest du nie gelebt.“ Paulina Okwori kennt die dunklen Nächte seit Jahrzehnten. Die 88-Jährige spricht von Albträumen und Panikattacken, die sie nicht schlafen ließen. „Ich habe mir so viele Gedanken gemacht.“ Auslöser war nicht ihre Lepra-Erkrankung, sondern die Reaktionen ihrer Familie, von Nachbar:innen und Freund:innen. „Auf einmal war ich allein, keiner wollte mehr etwas mit mir zu tun haben. Ich habe viel geweint.“

Als sich das Bein von Christopher Agum immer mehr veränderte und er den Anblick auch nicht mehr vor der Öffentlichkeit verbergen konnte, zogen sich alle Freund:innen und Bekannten zurück. „Ich hatte keine Eltern mehr, die waren gestorben und jetzt fühlte ich mich noch viel mehr allein“, gibt der heute 70-Jährige zu. Erst als sein Bruder ihm etwas Geld für den Transport ins Krankenhaus gab, wagte er das Unvermeidliche. „Ich hatte schreckliche Angst, dass etwas Schlimmes passiert.“ Und so war es auch: „Der Arzt sagte, dass mein linkes Bein amputiert werden muss. Ich dachte, dass ich lieber sterben will!“ Über die jahrzehntelangen Depressionen, die danach folgten, erzählte er nur dem Arzt. In der Gruppe kann er sich nun zum ersten Mal offen äußern. Keiner steht auf und geht – die Menschen bleiben und hören ihm zu. „Das tut richtig gut“, sagt er und lächelt.

Seelisches Leid mindern

Wie dringend notwendig es ist, bei Behandlungen von Lepra-, Tuberkulose- und Buruli Ulcer-Patienten auch den Bereich der psychischen Gesundheit mit einzuschließen, zeigen diese Beispiele. Es wird für die Betroffenen nie wieder ganz gut werden, aber zumindest kann das seelische Leid gemindert werden. Die DAHW und ihre Partnerorganisation RedAid Nigeria haben das erkannt und werden sich in den kommenden Jahren verstärkt bemühen, individuelle Belastungen zu behandeln und, wenn möglich, zu heilen. Auch wenn es schwerfällt zuzugeben, dass man ohne psychologische Hilfe nicht mehr leben kann und will.

Es sei ein Fehler gewesen, so lange zu schweigen und sich zurückdrängen zu lassen, sagt Prescilia Abaye heute. Die nächsten Jahre können besser werden. Davon ist sie überzeugt. Die Zukunft hat gerade erst begonnen.


"Den Menschen wurde ihre Menschlichkeit abgesprochen"

Dr. Joseph Chukwu ist seit Jahrzehnten als medizinischer Berater und Koordinator für die DAHW in Nigeria tätig. Ihm ist es besonders wichtig, Betroffene dabei zu unterstützen, sich selbst für die Bekämpfung der Krankheit zu engagieren - als aktive und akzeptierte Mitglieder der Communities. "Lepra war eine Krankheit der Isolation", sagt er, "den Menschen wurde ihre Menschlichkeit abgesprochen." Er sieht aber heute durchaus Fortschritte: "Jetzt können alle sehen, dass die Betroffenen Teil unserer Gesellschaft sind. Und wir sagen das nicht nur, wir leben es auch." Für dieses Umdenken setzt er sich seit jeher ein. "Wenn das der Beitrag ist, den ich leisten kann", sagt er, "dann ist das sehr wertvoll. Und das treibt mich an."


 

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