19. Januar 2024

Diagnose Lepra – und das Ende der großen Liebe

Pflegedienstleiterin Georgenia Ndulaka im Wartezimmer der Klinik im nigerianischen Abakaliki: „Es war ein Wunder!“ (Foto: Toby Nwafor / DAHW)

Im Südosten Nigerias kommen ehemalige Lepra-Patient:innen auf dem Gelände eines Krankenhauses zusammen. Sie lassen Spätfolgen der Erkrankung behandeln, greifen auf das Angebot einer orthopädischen Werkstatt zurück – und suchen Kontakt zu Schicksalsgenoss:innen. Denn Lepra ist in Nigeria immer noch eine einsame Krankheit.

Würzburg / Abakaliki, 25.01.2024: Langsam bewegt sich Matthew Ivom den Feldweg entlang. Ab und an sieht man noch Spuren der abklingenden Regenzeit, denen er humpelnd ausweicht. Schon wieder muss er eine große Pfütze umgehen. Nicht leicht für den ehemaligen Lepra-Patienten: Seine Füße sind deformiert und es haben sich wieder offene Wunden gebildet, eine Infektion darf er auf keinen Fall riskieren. Der Weg von der Lepra-Klinik des nahen St. Patrick-Krankenhauses „Mile 4“ nach Hause ist nicht weit: Matthew Ivom wohnt schon lange auf dem Klinikgelände – gemeinsam mit seiner Frau. Denn auch sie ist eine Betroffene. Zum Glück hat er heute schnelle Hilfe bei der Wundversorgung bekommen. Alles kann man eben doch nicht zu Hause selbst erledigen, und die Nähe zur Klinik ist ein großer Vorteil.

Die Lepra- sowie die Tuberkulose-Station des Krankenhauses liegen in einer idyllischen und gepflegten Anlage eng beieinander, aber in größerer Entfernung zum Hauptgebäude. Das verwirrt zuerst, doch erkennt Dr. Okechukwu Ezeakile von RedAid Nigeria daran den Geist der Vergangenheit: „Lepra- und Tuberkulose-Patient:innen wurden schon immer ausgegrenzt, und bis heute hat sich nicht viel daran geändert.“

Gemeinsam mit ihrer nigerianischen Partnerorganisation RedAid Nigeria unterstützt die DAHW Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe mit Sitz in Würzburg das Tuberkulose- und Lepra-Kontrollprogramm des nationalen Gesundheitsministeriums. Nigeria gehört zwar zu den Ländern, die schon vor über zwei Jahrzehnten die Eliminierung der Lepra verkündet haben. Doch die Realität sieht anders aus: Jährlich werden mehr als 2.000 neue Fälle gemeldet. Matthew Ivom ist nur einer der Betroffenen.

Die Tragödie des damaligen Bauarbeiters begann bereits 1990, als er noch ein junger Mann war. Erste Anzeichen waren Fieber und Hautveränderungen. Die Eltern wollten ihn zu einem Schamanen bringen, dem traditionellen Heiler des Dorfes. Doch er weigerte sich. Hatte nicht sein Kollege gesagt, dass die Flecken typisch für eine Lepra-Erkrankung seien und er lieber gleich in das Referenzkrankenhaus gehen solle? Mit dem Familienfrieden war es schlagartig vorbei. „Ich war ungehorsam. Meine Eltern wollten mich nicht mehr, und ich musste gehen“, sagt der heute 50-Jährige.

Es folgten viele Jahre mit langwierigen Behandlungen, die Füße veränderten sich. „Eine schlimme Zeit“, gibt er heute unumwunden zu. Er fand eine Bleibe auf dem Gelände des Krankenhauses, verlor den Job und seine große Liebe. „Auch ihre Eltern drohten, sie zu verstoßen, wenn sie mich heiratet. Wir waren füreinander bestimmt, das wussten wir. Sie wollte sich das Leben nehmen, doch ich konnte sie davon abhalten und ging. Das war das Einzige, was ich für sie tun konnte“, sagt er leise. 

Viel später wurde er mit einer Lepra-Patientin glücklich, die noch heute an seiner Seite ist. Das Paar bekam Kinder, und die Nähe zur Lepra-Station gibt beiden bis heute ein Gefühl der Sicherheit. Ivom macht sich nützlich und repariert die orthopädischen Sandalen seiner Mit-Patient:innen. Bis heute hat er keinen Kontakt mehr zu seiner Familie. Doch mittlerweile kann er damit leben, auch die Albträume der Vergangenheit sind vorüber. Seine Frau hat ihm durch ihren ähnlichen Lebens- und Leidensweg Kraft und Zuversicht gegeben. Seiner Familie, sagt Matthew Ivom, hat er vergeben.

Dankbar für jahrzehntelange Unterstützung

Das „Mile 4“-Krankenhaus in Abakaliki im Südosten Nigerias begann seine Lepraarbeit im Jahr 1946. „Ab 1960 widmete es sich auch zunehmend den Tuberkulose-Kranken“, erklärt Verwaltungsleiterin und Ordensschwester Charity Munonye. „Wir sind der DAHW sehr dankbar für den jahrzehntelangen Einsatz für uns.“

Seit rund drei Jahren führt die nationale Partnerorganisation RedAid Nigeria die Zusammenarbeit weiter. „Sie fördert in erster Linie unsere Tätigkeiten in den weit entlegenen Dörfern, wo unser Gesundheitspersonal Lepra-Arbeit macht. Dabei werden immer wieder neue Fälle entdeckt“, erzählt Charity Munonye. Rund zehn Besuche monatlich unternimmt das Team auf Motorrädern, da kaum Straßen in die unwegsamen Gegenden führen. „Die besonders schwer von Lepra Betroffenen kommen in unser Krankenhaus, die anderen werden in ihren Gemeinden weiterbehandelt. Auch Aufklärungsveranstaltungen rund um das Erkennen der Krankheit werden regelmäßig vor Ort durchgeführt.“ Darüber hinaus reden die mobilen Krankenpfleger:innen mit den betroffenen Familien, um Stigmatisierungen möglichst zu vermeiden. „Die Patient:innen werden gesellschaftlich benachteiligt, da sie Amputationen haben, ihnen Finger, Beine oder Arme fehlen. Man betrachtet sie deshalb als unsauber. Dagegen geht unser Team mit seinem ‚heilenden Charisma‘ vor. Letztendlich kann die Krankheit jeden treffen, aber vor allem eben die Ärmsten der Armen“, berichtet Charity Munonye.

Pflegedienstleiterin Georgenia Ndulaka erzählt von einer jungen Frau, die schwanger in das Krankenhaus kam. Sie hatte bereits Deformierungen an Händen und Füßen. In der angrenzenden Geburtsklinik brachte sie ihre Tochter zur Welt. „Wir alle kümmerten uns um das Baby. Mutter und Kind blieben fünf Jahre und bekamen nicht ein einziges Mal Besuch von ihrer Familie. Wir versorgten die durch die Lepra entstandenen offenen Wunden immer wieder.“ Das Gesundheitsteam nahm schließlich Kontakt zur Familie der jungen Frau auf. „Es war ein Wunder, denn es geschah etwas, das wir nicht mehr für möglich gehalten hatten: Die Eltern nahmen ihre Tochter und die Enkelin wieder in den Familienkreis auf.“

Das Leben geht weiter

Es gibt also auch Geschichten, die sich zum Guten wenden - auch die von Ebere Awoke. Die heute 44-Jährige hatte typische Lepra-Flecken im Gesicht, an den Armen und Beinen. Schon länger war ihr klar, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Sie verlor das Gefühl in ihren Gliedmaßen und stürzte oft. Schließlich kam sie in das bekannte Referenzkrankenhaus. Insgesamt 14 Monate blieb sie in Behandlung. Zwischenzeitlich kehrte sie nach Hause zurück, doch die Pigmentstörungen im Gesicht ließen sie zur Außenseiterin werden. „Es gab keine Treffen mit Freundinnen mehr, alle glaubten, ich habe eine böse Krankheit“, sagt sie. Zum Glück hielt die Familie zu ihr. „Heiraten wollte mich keiner mehr, das war schlimm“, ergänzt sie. Mit einem Leidensgenossen fand sie ihr Ehe-Glück und bekam vier Kinder. „Er hatte mehrere Amputationen und Deformationen“, sagt sie. Seit zwei Jahren ist Ebere Awoke verwitwet. Sie hat sich ausgesöhnt mit ihrer Krankheit, möchte nicht mit Bitterkeit zurückblicken. „Das Leben geht weiter. Heute bin ich zur Wundversorgung da, die die Krankheit immer noch erfordert.“ In der Werkstatt des Krankenhauses werden gerade ihre Sandalen repariert. Matthew Ivom wartet schon auf sie, denn man hilft sich gerne gegenseitig.

Die heute 65-jährige Mary Nwankwo hingegen trauert ihrer ersten großen Liebe immer noch nach. Besuche bei einem Dorf-Heiler, zu dem ihre Eltern sie nach Ausbruch der Krankheit brachten, halfen nichts. Auch die Kräuterwickel konnten die Flecken auf ihrem Körper nicht unsichtbar machen. Wie bei den anderen auch endete ihre Suche nach Genesung im „Mile 4“-Krankenhaus. Der Verlobte verließ sie, obwohl die Vermählung schon geplant war. Erst viel später heiratete sie wie Ebere Awoke einen Mit-Patienten. Es dauerte Jahre, bis sie geheilt wurde, die Lepra brach immer wieder aus und verletzte weitere Körperteile. Heute ist Mary Nwankwo gekommen, um eine offene Stelle am Bein versorgen zu lassen und Bekannte zum Plaudern zu treffen. Denn auch das ist das „Mile 4“-Krankenhaus: Ein Treffpunkt von Menschen, die dasselbe Schicksal teilen.


 

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