28. Dezember 2020

In Thailand drei Jahre auf der Leprainsel

Schreiben mit fingerlosen Händen. Foto: Ernst Hisch

Erfahrungen 1981–1984

In einem sechswöchigen Intensivtraining über Behandlung und Rehabilitation von Leprakranken im Januar und Februar 1981 in Karigiri, Südindien, hatte ich mich auf meine dann folgende Tätigkeit in Thailand vorbereitet. Ich begann danach, im Auftrag des Deutschen Aussätzigen Hilfswerks (DAHW) e.V. für das McKean Rehabilitation Center auf der Lepra-Insel im Fluss Ping in Chiang Mai, Nord-Thailand, zu arbeiten. Innerhalb von drei Jahren sollte ich dort eine Abteilung für Ergotherapie aufbauen und zugleich die Vermarktung der Holzschnitzarbeiten von Patient*innen neu organisieren.

Am Tag nach der Ankunft kaufte ich mir ein Motorrad und begann mit dem Sprachtraining. Sechs Monate lang lernte ich vormittags Thai und arbeitete nachmittags auf der Insel. Später kam noch Nordthai dazu, die Sprache der älteren Patienten. Sowohl die Sprachkurse als auch meine blaue Suzuki waren gute Investitionen. Mit dem Motorrad durchstreifte ich während meiner freien Zeit den Norden Thailands, mit dem Vehikel der Sprache erreichte ich die Menschen, konnte mit ihnen kommunizieren und mich mit ihnen auseinandersetzen. Meine erste Aufgabe war es, einen riesigen Lagerbestand von Teakholzschnitzereien abzubauen. Die Produkte von Holzschnitzern auf der Insel und in den Außendörfern wurden von McKean kontinuierlich aufgekauft. Der Weiterverkauf ruhte jedoch, weil seit längerer Zeit niemand für die Kundenkorrespondenz in englischer Sprache zur Verfügung stand. Durch die lange Lagerung hatte sich die mit Wachs polierte Oberfläche des Holzes unansehnlich grau verfärbt. Ein Verkauf in diesem Zustand war nicht möglich, eigentlich blieb nur die Entsorgung. Erst als ich mich auf Thai unterhalten konnte, erfuhr ich von einem Holzschnitzer, wie man die Ware retten konnte. Das Wachs wurde abgebürstet oder mit Benzin abgewaschen, dann die Oberfläche mit Sandpapier angeschliffen und mit einer dünnen Lackschicht versehen.

Nun ging es um Käufer. Ich durchstöberte die Kundenkorrespondenz früherer Jahre, notierte die Adressen von guten Abnehmern in England, Amerika und Kanada und schickte ihnen Angebote, die bei Abnahme großer Mengen Preisnachlässe gewährten. Die Strategie ging auf, und Mitte 1982 war alles verkauft. Wir hatten umgerechnet etwa 280.000 DM eingenommen. Die Produktion im Voraus wurde gestoppt, die Schnitzer bekamen nur noch Aufträge, wenn Bestellungen von Kunden vorlagen.

Naay Chan war ein guter Schnitzer, hatte aber bei der für gefühllose Hände gefährlichen Arbeit seine Finger verloren. Nun fixierte er die scharfen Schnitzmesser mit Bandagen, eine wackelige Lösung, bei der er sich oft verletzte. Unterstützung lehnte er kategorisch ab, erst nachdem ich genug Nordthai beherrschte, um mich mit ihm unterhalten zu können, fasste er Vertrauen zu mir.

Ich adaptierte die Griffe seiner Werkzeuge, damit er sie fest an die Hände klemmen konnte und machte ihm damit das Arbeiten etwas leichter.

Dennoch lag in der Holzschnitzerei keine Zukunft für unsere Patienten. Die Arbeit war gefährlich für gefühllose Hände und brachte die Schnitzer mit dem Gesetz in Konflikt, weil sie mit illegal geschlagenem Teakholz arbeiteten. Auf der Suche nach alternativen Einkommensquellen organiserte ich für zwei Außendörfer Kurse in einfacher Löt- und Schmiedetechnik. Die Teilnehmer gingen danach als ‚Kesselflicker‘ in die benachbarten Dörfer und verdienten damit etwas Geld dazu. In Anbindung an die Ergotherapie stellten ältere und schwerer behinderte Patient*innen Weihnachtskarten und ähnliches in verschiedenen, ihrer Behinderung angepassten Drucktechniken her, oder fertigten Puzzles oder Lackdöschen mit Blattgoldmuster an. Diese Artikel hatten feste Abnehmer in australischen oder amerikanischen Kirchengemeinden, die sehr hilfsbereit und kooperativ waren.

Nach dem Sprachkurs begann die Arbeit als Ergotherapeut. Die Aufgaben waren vielfältig und erforderten enge Zusammenarbeit mit den Kolleg*innen der Physiotherapie, Chirurgie, in der Orthopädiewerkstatt und dem Team für Dorfentwicklung. Vor Verpflanzung von Sehnen in Fingern wurden Patient*innen über die gewünschte Funktion der Hände befragt, ein Landwirt zum Beispiel setzt die Hände anders ein als ein Uhrmacher. Gleichzeitig wurde der Ist-Zustand von Hand und Fingern ermittelt. Mit diesen Informationen konnte schon während der Operation über Länge, Stärke oder Ansatz der verpflanzten Sehne auf die späteren Anforderungen eingegangen werden.

Suyma war illgeal über die burmesische Grenze gekommen, um sich in McKean behandeln zu lassen. Die Finger seiner rechten Hand waren verkrümmt und in der Funktion eingeschränkt. Sein Berufswunsch war, Radios zu reparieren, und es gelang durch einen rekonstruktiven Eingriff mit Sehnenverpflanzung, die Finger zu strecken und der Hand eine gute Feinmotorik zu verleihen. Suyma war geschickt und übte gewissenhaft mit der operierten Hand. Noch in der Ergotherapie begann er Grußkarten mit Landschaftsmotiven zu bemalen, um damit Geld zu verdienen, während er auf den Beginn seines Elektronikkurses wartete.

Etwa 25 Jahre später saß ich mit meiner Frau in Deutschland im Kino, der Film handelte von der burmesischen Oppositionspolitikerin Aung San Suu Kyi. Plötzlich glaubte ich Suyma vor mir zu sehen, in der Rolle eines burmesischen Generals. Ich traute meinen Augen nicht, bis er mit der rechten Hand ein Glas zum Mund führte. Ich kannte die Hand, es war die operierte Hand eines früheren Leprapatienten, ich hatte sie selbst behandelt, es war Suyma. Von Freunden bei McKean erfuhr ich später, dass Suyma für den Radiosender einer burmesischen Befreiungsbewegung arbeitete, der von Chiang Mai aus sein Programm ausstrahlte. Der Sender wirkte bei der Produktion des in Nordthailand gedrehten Films mit, und als man Schauspieler mit burmesischem Aussehen brauchte, nutzte Suyma die Gelegenheit.

Sehr am Herzen lag mir der Schutz gefühlloser Hände vor Verletzungen und Verbrennungen, zum Beispiel durch Handschuhe beim Kochen oder mit weichem Gummi überzogene Handgriffe und Werkzeuge. Gefühllose Füße wurden durch spezielle Einlegesohlen und wegen vermindertem Lidschlag gefährdete Augen durch Sonnenbrillen geschützt. Der Schutz von Händen, Füßen und Augen war besonders wichtig für Patienten in den Außendörfern, da sie durch die harte körperliche Arbeit besonders gefährdet waren. Gesundheitserziehung half den Patienten zu verstehen, wie zum Beispiel aus gefühllosen Fingern eine in der Funktion stark eingeschränkte Hand wird und wie sich das verhindern lässt.

Wandee, eine junge Frau, die in einem Außendorf von McKean aufgewachsen war, wurde meine Assistentin. Ich bildete sie in den für die Arbeit in McKean wichtigen Grundtechniken der Ergotherapie aus. Sie war sehr interessiert und lernbereit, wir haben sehr gut zusammengearbeitet. Während der Pausen plauderten wir gern mit unseren Patienten, um diese besser kennen zu lernen. Als ich McKean verließ, wusste ich die Patienten der Ergotherapie bei Wandee in guten Händen.


Veröffentlichung: Die Klapper - Mitteilungen der Gesellschaft für Leprakunde e. V. 28, 2020