05. August 2009

"Mehr als 500.000 gute Gründe nicht zu kapitulieren"

DAHW lässt die Menschen in Nigeria nicht im Stich

Nur spärlich bekleidet kommen drei Mitarbeiter der Deutschen Lepra- und Tuberkulosehilfe (DAHW) am späten Abend im Krankenhaus von Abeokuta an – zu Fuß, obwohl sie mehr als 400 km Reise hinter sich haben. Gestartet waren sie vom DAHW-Büro in Enugu mit einem Auto. Der ältere Geländewagen ist bei den Straßenverhältnissen im Land das sinnvollste Verkehrsmittel für längere Strecken.

Fidelis Adebayo läuft zum Tor, um die Kollegen zu begrüßen. Der Sozialarbeiter der DAHW in Abeokuta ahnt schon, was passiert war: Kurz vor dem Ziel wurde das Fahrzeug von einer bewaffneten Bande gestoppt und ausgeraubt. Jeder Mitarbeiter der DAHW in Nigeria hat gelernt, wie man sich in solch einem Fall verhalten muss: langsam die Hände heben, den Anweisungen der Räuber folgen und höflich anbieten, sie sollten alles nehmen, was sie wollen.

In diesem Fall wollten die Räuber wirklich alles: Fahrzeug, Geld, Uhren, Reisetaschen und sogar einige der Kleider und die Schuhe ihrer Opfer. Aber das Wichtigste konnten die DAHW-Mitarbeiter retten: ihr eigenes Leben. „Das ist so eine Art Ehrenkodex der Räuber, wenn das Opfer nicht den Helden spielt“, sagt Fidelis und fügt später hinzu: „Nigeria wirst Du niemals begreifen können!“

Warum es hier so viele schwer bewaffnete Banden gibt, ist im Land selbst kein Geheimnis: Die modernen Schnellfeuergewehre bekommen die Gangster von ihren Auftraggebern. Sie werden von Unternehmen oder reichen Privatleuten engagiert und ausgerüstet, um diese zu beschützen, manchmal müssen sie damit auch deren Gegner einschüchtern.

Brauchen die Auftraggeber aus irgendwelchen Gründen diese „Schutzdienste“ nicht mehr, werden sie einfach entlassen. Die Waffen dürfen sie behalten, quasi als „Existenzgründungshilfe“, das Geschäft ihrer neuen „Ich-AG“ wird auf die Kernkompetenzen reduziert: Raub, Erpressung und Einschüchterung – eben das, was sie bislang auch gemacht haben, nur notgedrungen auf eigenes Risiko. Die Verursacher dieser Misere kümmern sich um diese Probleme nicht mehr, und fast jeder in Nigeria kann Opfer dieser Banden werden – Hilfsorganisationen genauso wie staatliche Institutionen.

 

Im Krankenhaus "Sacred Heart" von Abeokuta legen jährlich mehr als 30 Krankenschwestern und -pfleger ihr Examen ab.

Fidelis zuckt mit den Schultern, eine Lösung hat er auch nicht: „Wir versuchen, nur tagsüber unterwegs zu sein, dann ist die Gefahr nicht so groß.“ Die Alternative wäre, gar nicht mehr durch das Land in die vielen, kleinen Orte abseits der großen Metropolen zu fahren. Aber das kommt für den DAHW-Mitarbeiter nicht in Frage: „Wer kümmert sich dann noch um die Menschen, die an Lepra oder Tuberkulose erkrankt sind und Hilfe benötigen? Viele von ihnen haben keine Möglichkeit, bis zur nächsten großen Stadt zu einem Krankenhaus zu fahren.“

 

"Wartezimmer" vom Krankenhaus "Mile 4" in Abakaliki im Schatten unter einem Baum.

Im bevölkerungsreichsten Land Afrikas wird jedes Jahr bei fast 5.000 Menschen eine Lepra-Erkrankung diagnostiziert, die Dunkelziffer der nicht entdeckten Fälle dürfte weitaus höher liegen. Mehr als 500.000 Menschen erkranken jedes Jahr neu an Tuberkulose, jeder zehnte davon sogar in Kombination mit HIV/Aids. Fast alle dieser Patienten gehören zu den Ärmsten, wohnen entweder in Dörfern ohne Infrastruktur oder ausreichende Versorgung oder in den Slums der großen Städte, wo sich manchmal mehr als zehn Menschen ein Zimmer teilen müssen. „Das sind mehr als 500.000 gute Gründe für mich und meine Kollegen, nicht vor der Gewalt auf unseren Straßen zu kapitulieren“, meint Fidelis, als er sich auf sein altes Motorrad setzt, um einige seiner Patienten zu besuchen – die Menschen, die er auch weiterhin nicht allein lassen will.

Menschen im Mittelpunkt

Samuel zum Beispiel wurde als Zwölfjähriger von seinen Eltern vor dem Krankenhaus in Abeokuta ausgesetzt, weil er an Lepra erkrankt war. Dort wurde er vollständig geheilt und begann, als Schuhmacher zu arbeiten. Als sein Chef erfuhr, dass der Junge früher Lepra hatte, stand er wieder auf der Straße – 15 Jahre alt, allein und ohne Perspektive. Die rettende Idee stammte von Fidelis: Warum sollte Samuel sich nicht als Schuhmacher selbständig machen, sein eigenes kleines Geschäft eröffnen?

„Mikrokredit“ heißt das Zauberwort, in diesen Ländern oftmals die einzige Chance für Menschen mit dem Stigma der Lepra. In den Hilfsprojekten der DAHW können sie kleine Kredite bekommen, zumeist Summen zwischen 50 und 200 Euro – für deutsche Verhältnisse sehr wenig, in diesen Ländern aber fast ein halbes Jahreseinkommen. Damit und durch die Betreuung der Sozialarbeiter wie Fidelis Adebayo ist der Start in das neue Berufsleben abgesichert.

„Für unsere PAL („people affected by leprosy“ – von Lepra betroffene Menschen) bin ich immer zu sprechen“, umschreibt Fidelis seine Arbeit als Sozialarbeiter und fügt die daraus resultierenden „Nebentätigkeiten“ gleich hinzu: „Unternehmensberater, Finanzberater, Vermittler zu Behörden oder Lieferanten, und manchmal sogar Seelentröster, wenn der Start nicht ganz so gut läuft.“

Einige mussten aufgeben, konnten selbst das kleine Darlehen der DAHW nicht zurückzahlen: „Das Risiko müssen wir eingehen, wenn wir solche Kleinkredite vergeben.“ Trotz aller Bemühungen muss Fidelis eingestehen, dass es ganz ohne Risiko nicht funktioniert: „Wenn wir völlig auf jegliches Risiko verzichten wollten, dann dürften wir hier in Nigeria gar nichts unternehmen.“

Aber aus den Risiken erwachsen in diesem Land auch viele Chancen: Die meisten ehemaligen Leprapatienten haben es nämlich geschafft, können mit ihren kleinen Geschäften den Lebensunterhalt für sich selbst und ihre Familien erwirtschaften. Einige haben sogar noch etwas mehr erreicht, wie der Schuhmacher Samuel: Er hat heute zwei Läden mit insgesamt sieben Angestellten.

„Manchmal müssen wir auch etwas nachschieben, wenn es nicht so richtig läuft“, erinnert sich Fidelis an den Kiosk von Joyce: „Sie hat schwere Verstümmelungen an den Händen und man kann sofort sehen, dass sie an Lepra erkrankt war.“ Die Folge: Die Menschen in ihrem kleinen Dorf mieden ihr Angebot, holten sich ihr frisches Wasser oder andere Getränke lieber im Nachbardorf.

 

Dank Generator kann Joyce endlich ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten. 

Doch dann kam die einmalige Gelegenheit, erinnert sich der Sozialarbeiter: „Ein wichtiges Fußballspiel wurde im Fernsehen angekündigt, und alle Menschen in Nigeria sind fußballverrückt.“ Schnell hat er den Mikrokredit aufgestockt, einen alten Fernseher und einen Stromgenerator angeschafft: „In dem Dorf gibt es keine Stromversorgung, also auch keine Fernseher, und wer dieses Spiel sehen wollte, musste nun zu Joyce gehen.“

Inzwischen kommt das ganze Dorf zu Joyce und kauft bei ihr Getränke – nicht nur, wenn ein Fußballspiel läuft. Das kleine Geschäft floriert seither, Joyce kann ihren Mikrokredit zurückzahlen und mit ihrer eigenen Arbeit ihre kleine Familie ernähren.

Nachhaltigkeit ist die Maxime der DAHW bei ihrer Arbeit – sowohl bei den einzelnen Menschen wie Samuel oder Joyce, als auch in den gesamten Projekten: Seit 1964 unterstützt die DAHW Hilfsprojekte wie das Krankenhaus von Abeokuta, die für ihre hohe Qualität weit über die Grenzen der Regionen hinaus bekannt sind, in Abeokuta besonders durch die Ausbildung von Krankenschwestern oder durch Ärzte wie Dr. Gertrud Biersack und Dr. Kehinde Schowole.

 

Mit 15 Jahren gestartet, heute mit 30 hat er zwei Geschäfte mit sieben Angestellten - Samuel ist für den DAHW-Sozialarbeiter Fidelis Adebayo (li.) Beispiel für gelungene Rehabilitation nach einer Lepra-Erkrankung.

Diese Krankenhäuser sind Orte der Hoffnung und manchmal auch Schutzburgen gegen den Teufelskreis von Armut und Krankheit. Seit einigen Jahren kommen immer mehr völlig ausgehungerte Patienten. Ihr Anblick weckt bei Dr. Joseph Chukwu, dem medizinischen Berater der DAHW im Krankenhaus „Mile 4“ in Abakaliki, noch heute schlimme Erinnerungen: „Als Jugendlicher habe ich den Biafra-Krieg und die darauf folgende Hungersnot erleben müssen. Die ausgemergelten Patienten heute sehen genau so aus wie die vielen Menschen, die ich damals habe sterben sehen – genau hier, im Zentrum des damaligen Biafra.“

Diese Erinnerungen haben Dr. Chukwu veranlasst, nach seinem Studium in Österreich nach Nigeria zurückzukehren, um den
Menschen in seiner Heimat zu helfen: „Und heute kann ich manchmal nichts mehr tun, weil die richtigen Medikamente für diese Patienten hier nicht immer verfügbar sind.“

 

Ko-Infektion TB und HIV - Cordelia A. ist auf weniger als 40 Kil abgemagert. muss im Krankenhaus "Mile 4" zunächst mit einer speziellen Ernährung aufgepäppelt werden. Ihr Mann Boniface kümmert sich aufopferungsvoll um sie.

Die Rede ist von Tuberkulose-Patienten, die gleichzeitig mit HIV infiziert sind – eine besonders gefährliche Kombination von zwei jeweils für sich schon tödlichen Krankheiten. „Wir müssen diese Patienten hier zunächst einmal aufpäppeln“, sagt Dr. Chukwu und sieht dabei die Probleme: „Das bedeutet mehr Aufwand an Arbeitszeit, Medikamenten und Lebensmitteln als für andere Patienten, aber wir können diese Menschen doch nicht einfach sterben lassen!“

Diese Maxime zieht sich durch die DAHW-Projekte in Nigeria wie ein roter Faden: Die Krankenhäuser sind Ruhepole in einem Land mit großen sozialen Spannungen.  Rund um diese Projekte fühlen sich die Menschen sicher, weil sie wissen: Auch in der größten Not wird hier jemand sein, der sich um sie kümmert, wenn sie Hilfe benötigen.


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