Interview mit Ary van Wijnen

Interview mit Ary van Wijnen: Mein Idol - Albert Schweitzer

Heute ist der aus Holland stammende Dr. Ary van Wijnen einer der letzten Zeitzeugen, die eng mit Albert Schweitzer zusammen gearbeitet haben.

Dr. Ary van Wijnen (73) hat in Groningen Medizin studiert und ist dann nach Lambaréné gegangen, um bei Albert Schweitzer zu arbeiten. Als junger Arzt hat er noch sechs Monate mit seinem Idol zusammen gearbeitet, später war Dr. van Wijnen ärztlicher Direktor des Hospitals in Lambaréné, während Schweitzers Tochter Rhena die Verwaltung geleitet hat.

Zeit Lebens war Dr. van Wijnen der Entwicklungszusammenarbeit verbunden: Von Lambaréné aus ging er nach Haiti und später wurde er medizinischer Berater der Deutschen Lepra- und Tuberkulosehilfe (DAHW).

Heute ist Dr. Ary van Wijnen einer der letzten Zeitzeugen, die eng mit Albert Schweitzer zusammen gearbeitet haben.


Dr. van Wijnen, wie sind Sie nach Lambaréné gekommen?

Schon von Anfang an wollte ich kein Arzt in Europa werden, sondern irgendwo in den Entwicklungsländern helfen. Ich habe mir gedacht, dass ich vielleicht nicht geeignet dafür bin oder es mir in den Tropen nicht gefällt und deshalb hatte ich eigentlich vor, während meines Studiums in Groningen für eine Zeit in einem Hospital zu arbeiten. Per Zufall habe ich eine Dame gekannt, die bei Albert Schweitzer gearbeitet hat und diese habe ich dann gefragt, ob ich dort für einige Zeit arbeiten kann.
Dies war nicht möglich, weil Albert Schweitzer schon so berühmt war und so viele Besucher kamen, dass es schwierig war. 1963 kam plötzlich ein Telegramm, dass ich willkommen war und kommen durfte, und dann habe ich die Reise mit Hilfe meiner Eltern organisiert.

So war ich dann innerhalb einer Woche in Lambaréné und das war schon ein großes Erlebnis für mich. Man kam damals mit einem alten DZ4 auf das Flughafengelände und man fuhr mit dem Jeep am Ufer des Flusses Ogooué in Lambaréné entlang und wurde von großen Kanus abgeholt. Dann fährt man ca. 20 Minuten über den Ogooué und sieht man in der Ferne das Hospital am Ufer liegen. Als ich nahe dem Hospital war, habe ich plötzlich die Glocken gehört. Nachträglich habe ich erfahren, dass es Gewohnheit ist, immer wenn Besucher kommen, die Glocken läuten zu lassen. Alle Mitarbeiter und Albert Schweitzer selbst kamen zum Ufer und empfingen uns. Dann habe ich ihn gegrüßt und er fragte mich, wo ich herkomme. Ich sagte aus Groningen und er: „Ah, das kenne ich, wunderschöner Ort mit der Aa-Kirche.“ Ich habe mich bloß gewundert, er war damals 88 Jahre alt und konnte sich noch daran erinnern. Dann wurde ich in einem Zimmer untergebracht und war dann insgesamt sechs Monate dort.

Sie haben gesagt, sie wollten Medizin studieren für Entwicklungsländer, viele andere Menschen studieren Medizin wegen der guten Verdienstmöglichkeiten.

Jeder musste natürlich für sich ein Ziel suchen und mein Vater ist evangelischer Pfarrer, war von Schweitzers Theologie begeistert und ein Anhänger seiner liberalen Theologie. So wurde in unserer Familie viel über Schweitzer gesprochen. Wie das so ist, dann wird so eine Figur ein Idol. Das war er für mich, ich habe viel über ihn gelesen und war beeindruckt, dass er seine Karriere aufgegeben hat, um in Lambaréné das Hospital zu gründen. So etwas wollte ich auch machen, nicht unbedingt bei Albert Schweitzer, aber nachdem ich die Chance bekommen hatte, ist es so gekommen, dass ich 1963 zu Schweitzer kam.

Ist damit für Sie ein Lebenstraum in Erfüllung gegangen?

Ja, das stimmt! Es war schön im Hospital von Albert Schweitzer – meinem Idol - zu arbeiten und natürlich auch, ihn persönlich kennen zu lernen. Besonders in Erinnerung habe ich noch die Abendandachten. Wir haben natürlich den ganzen Tag im Hospital gearbeitet und abends um 19:00 Uhr war dann die Abendmahlzeit. Wir saßen an einem langen Tisch, in der Mitte Albert Schweitzer, links und rechts von ihm seine treuesten und am längsten anwesenden Krankenschwestern, die Gäste meistens gegenüber und auch die restlichen Mitarbeiter des Hospitals. Am Ende der Mahlzeit wurde alles weggeräumt, Albert Schweitzer hat dann ein Kapitel aus der Bibel vorgelesen und hat seine Kommentare dazu gegeben. Das war beeindruckend, erstens saß er in der Mitte wie ein Prophet und zweitens hat er einen sehr markanten Kopf wegen seines Schnurrbarts und den langen Haaren. Und er hat sehr überzeugend über die Bibel gesprochen, das war eine schöne Erfahrung.

Nach der Abendandacht ist er zum Klavier gegangen und hat uns begleitet. Wir haben aus dem Elsass-Gesangbuch einige Lieder gesungen. Das Klavier bekam er mal von einem Kapitän. Albert Schweitzer ist fast nie mit dem Flugzeug geflogen, sondern meistens mit dem Schiff gefahren. Auf den langen Schiffsreisen hat er immer auf dem Klavier an Bord gespielt, bis einmal der Kapitän es ihm geschenkt hat. Es stand dann im Speisesaal, war aber so zerfressen von den Kakerlaken, dass mindestens die Hälfte der Tasten nicht mehr gingen. Doch Schweitzer wusste sich zu helfen und er konnte noch ein bisschen harmonische Musik darauf spielen. Das sind viele Erinnerungen.

Woher glauben Sie, hat Albert Schweitzer die Kraft hergenommen – aus seinem Glauben heraus?

Sicher aus seinem Glauben. Er war ein frommer Mensch und hatte eine liberale Theologie. Die konservativen Christen waren nicht einverstanden mit ihm. Zum Beispiel eine evangelische Missionsgesellschaft, die in Lambaréné die Missionsstation betrieb: Die hatte ihn eigentlich auch engagiert, aber sie haben sehr gezögert, ob sie ihn nehmen sollten, weil es war bekannt, dass er ein liberaler Theologe war und sie fürchteten, dass er vielleicht die Geister der Afrikaner einmal verwirren könnte. Drauf hat Schweitzer versprochen, so stumm zu sein wie ein Fisch. Tatsächlich hat er auch nie missioniert. Er wollte durch seine Taten den Menschen deutlich machen, wer sein Meister Jesu war und was das Christentum ist. Allerdings hat er sonntags einen Gottesdienst im Freien zwischen den Baracken gehalten.

Seine Kraft hat er sicher aus dem Christentum genommen. Er war eigentlich von Anfang an ein sehr sensibler Mensch, wenn man zum Beispiel seine Jugenderinnerungen liest – ein sehr schönes Buch, der Schriftsteller Hermann Hesse hat es als beste Jugenderinnerung im deutschen Sprachraum bezeichnet. Darin sieht man, wie sensibel er eigentlich war. Darin beschreibt er auch sein Mitgefühl darüber, was die Europäer den Afrikanern angetan haben.

Er hat auch geschrieben, wir sind nicht nur in Afrika, um zu entdecken, sondern um was Gutes zu tun und damit Sühne zu leisten. Für alles, was wir Menschen falsch gemacht haben, soll jemand hinausgehen, um das wieder gut zu machen. Das sind sicherlich die wichtigsten Gründe für Albert Schweitzers Kraft. Er war ein sehr disziplinierter Mensch, der ein deutliches Ziel vor Augen hatte und sich nicht durch Irrwege hat ablenken lassen.

Hat Sie das persönlich stark geprägt? Sie sind ja danach in der Entwicklungshilfe geblieben.

Dadurch, dass ich Schweitzer selbst erlebt habe, wurde ich in den Werten meiner Erziehung natürlich bestätigt. Es war natürlich nicht einfach, denn die Tropen sind schon klimatisch nicht immer optimal, aber das war möglich, wenn man das will. Und ich wollte es und habe es immer weiter geführt.

Kommen wir zu dem neuen Film über Albert Schweitzer – faszinierend, mit tollen Bildern und einer starken Geschichte. Wie realistisch ist er?

Ich war sehr neugierig auf diesen Film, weil in der Vergangenheit schon einige gemacht wurden, die nicht gut waren. Da haben die Macher zu viel herausgestrichen – das Gute in ihm oder das Gegenteil, dass man ihn zu sehr kritisiert hat. Der wirkliche Schweitzer war in diesen Filmen nicht zu erkennen. Bei dem jetzigen Film habe ich schon ein sehr gutes Gefühl, weil ich vieles schon auf der Internetseite gesehen habe. Da sind sehr schöne Aufnahmen dabei und auch die Geschichte – obwohl erfunden – erzählt viele Elemente von Schweitzers Leben da. Ich habe ein sehr gutes Gefühl.

Mit „erfunden“ meinen Sie die Bespitzelung durch die CIA?

Ja, ich habe oft mit Albert Schweitzer gesprochen, und er setzte sich ja wirklich für den Kampf gegen die Atombombe ein. Aber dass die CIA mal jemanden nach Lambaréné geschickt hat, um da Schweitzer in Misskredit zu bringen, das ist erfunden. Es war schon so, dass die Regierungen von den USA und Frankreich nicht einverstanden waren. Aber ich glaube nicht, dass sie so große Aktionen unternommen haben, um ihn zum Schweigen zu bringen. Das wird in dem Film gemacht, ein bisschen Dramatik rein zu bringen.

Sehr schön von dem Film fand ich auch, dass man nicht an Kritik gespart hat. Verschiedene Figuren, die mal Kritik an Schweitzer angewandt hatten, werden dort genannt, und Schweitzer hat immer überlegt, ob er darauf antworten soll oder nicht. Der Film ist immer bemüht um ein gutes Gleichgewicht zwischen der Kritik und der guten Seite – dem Großartigen, was Schweitzer geleistet hat.

Die Aufnahmen der Landschaft sind wunderschön, es ist unterhaltsam, man langweilt sich nicht. Ich finde, das Wichtigste von Schweitzer – sein Denken, seine Philosophie von der Erfurcht vor dem Leben – wird ebenfalls sehr gut dargestellt. Verschiedene Male wird davon gesprochen und am Ende wird er auch zitiert, dass jeder sein eigenes Lambaréné haben kann. Also: ich bin eigentlich sehr positiv überrascht. Der Darsteller ähnelt ihm eigentlich sehr – nicht nur äußerlich – und auch die Frau von Schweitzer wird sehr gut gespielt. Es ist ein Film, der meiner Ansicht nach gelungen und sehr zu empfehlen ist.

Was haben Sie in dem Film wiedererkannt, welche Erinnerungen sind in Ihnen wieder gekommen?

Ich habe ungefähr sieben Jahre im alten Hospital gearbeitet und dann noch drei weitere im neuen Spital, da habe ich natürlich sehr viele Erinnerungen. Es gibt da eine Straße zwischen den Baracken, wo die neuen Patienten warten müssen. Wir Ärzte sitzen dann in den Gebäuden, und wir hatten immer einen Übersetzer bei uns. In Gabun werden in mindestens zehn einheimische Sprachen gesprochen, auch wenn man eine sprechen würde, könnte man mit Vielen nicht reden.

Gegenüber sitzen dann die neuen Kranken. Dann fängt der Arzt natürlich an und fragt nach, was sie haben. Dann antwortet der Patient vielleicht, dass er hustet. Aber das dauert, man muss sehr viel Geduld haben. Der Übersetzer fragt erst den Patienten, was er hat. Der fängt dann erst mal an mit dem Wurm. Von irgendwo im Fuß, ist langsam hoch gekrochen in den Bauch und am Schluss ist er in der Nase. Schlussendlich wenn ich die Frage gestellt habe, was der Patient hat, kommt als Antwort, ja er hustet. Alles in Allem muss man sehr viel Geduld haben.

Also ist die Geschichte mit „dem Wurm“ in dem Film wirklich so passiert?

Ja, es ist tatsächlich so! Die Kinder sind alle von Würmern befallen, und daher denken auch die Erwachsenen, die das sehen: der Wurm ist schuld an allen Krankheiten. Der muss dann natürlich heraus geschnitten werden.

Ein zentraler Punkt im Film ist das Lepradorf von Lambaréné. Wie hat Schweitzer sich um diese Patienten gekümmert?

In Gabun gab es nicht viele Einrichtungen, die sich um Leprakranke kümmerten, und Schweitzers Spital war mit Sicherheit die wichtigste. Von Anfang an schon kamen die Leprapatienten nach Lambaréné. Schweitzer hat sie versorgt und dann ein eigenes Dorf für sie errichtet. Schweitzer war übrigens einer der ersten Ärzte, die das Medikament Dapson für die Patienten benutzt haben, weil es bekanntlich gegen Lepra bis zum 2. Weltkrieg keine Medikamente gab. Er hat von amerikanischen Freunden 1943 das erste Medikament bekommen, es ausprobiert und damit großen Erfolg gehabt. Um die Patienten in dem Lepradorf hat er sich besonders gekümmert und später dann mit dem Geld vom Friedensnobelpreis das Dorf erneuert.

Hat es dabei Probleme gegeben? Lepra ist ja stark stigmatisiert und Patienten werden ausgestoßen – selbst diejenigen, die mit ihnen zusammen sind:

Im Dorf selber gab es natürlich auch mal Streit, aber eher von der Sorte, wie es ihn in jedem Dorf gibt – nicht wegen der Lepra. Aber in den Dörfern der Umgebung wurden diese Menschen schon ausgegrenzt, wobei Lepra in Gabun nicht so verbreitet war wie in verschiedenen anderen Ländern. Aber diese Probleme existierten, ja.

Im Film gibt es die Szene, als der Bösewicht von der CIA davor zurück schreckt, einem Kind mit Lepra die Hand zu geben.

Ja, ich finde das auch gut, dass man mal so etwas zeigt, weil das die Wirklichkeit ist. Viele Menschen nehmen den Mund voll, dass sie den armen Patienten helfen wollen, aber wenn es dann dazu kommt, einen Leprapatienten, der eine verformte Hand hat, anzufassen, schrecken sie davor zurück, weil sie Angst haben angesteckt zu werden.

Hatten Sie selbst Angst, als Sie zum ersten Mal einen Leprapatienten berührt haben?

Ich hatte keine Probleme, weil ich wusste, wie das übertragen wird – Lepra meist durch Tröpfcheninfektion – und die meisten Menschen sowieso immun gegen Lepra sind. Die Chance, dass man Lepra bekommt, ist sehr gering und dazu gibt es heutzutage gute Medikamente. Es gibt keinen Grund Angst zu haben.

Überhaupt kein mulmiges Gefühl?

Nein eigentlich nicht. Gut, ich war ja dafür ausgebildet und wenn ich mich infizieren würde, hatten wir ja die guten Medikamente, das wäre eigentlich kein Problem. Aber bei dem Anblick der Patienten hatte ich die Bestätigung, welche Not diese Menschen haben – die Ausgrenzung und auch wegen ihrer körperlichen Leiden.

Sie sprechen von guten Medikamenten, aber zur damaligen Zeit gab es nur Dapson – mit allen Risiken.

Dapson ist zwar ein gutes Medikament, aber man hat festgestellt, dass man es nicht alleine nehmen kann. Heutzutage wird es nur noch in Kombination mit anderen verabreicht, weil sonst die Bakterien resistent werden und dann wird es natürlich schwieriger, die Krankheit zu behandeln. Das heißt Dapson war und ist eigentlich immer noch ein gutes Medikament. Aber man darf es nie alleine nehmen, weil es sonst zur Resistenz führt.

Zusätzlich darf man Dapson nicht in hohen Dosierungen nehmen, weil es sonst toxisch wirkt. Daher hat man es – obwohl schon 1928 erfunden – viele Jahre lang nicht eingesetzt. Erst Wissenschaftler in Amerika haben das Medikament während des Krieges wieder hervorgeholt und in niedriger Dosierung gegeben. Dabei hat sich dann herausgestellt, dass es äußerst effektiv wirkt. In normaler Dosierung hat es nicht gewirkt, weil wegen der großen Nebenwirkungen.

Welche Personen aus dem Film haben Sie später persönlich kennengelernt?

Ich kenne natürlich Albert Schweitzer, seiner Frau bin ich nicht begegnet, sie ist 1962 leider schon gestorben. Die Schwestern habe ich fast alle wieder erkannt, auch wenn sie jetzt im Film andere Namen haben.

Schweitzers Tochter Rhena habe ich sehr gut gekannt: Sie war 1963 da, aber auch später, als ich zurückkam. Im Ganzen war ich zehn Jahre in Lambaréné und habe mindestens fünf Jahre mit ihr zusammen gearbeitet. Manchmal war ich nach der Arbeit mit ihr am Fluss, weil sie immer noch einen Ausflug machen wollte mit einem kleinen Kanu. Das war jedes mal ein Abenteuer, weil diese kleinen Kanus sehr wackelig sind. Deswegen ist es auch manchmal passiert, dass wir umgekippt sind. Man muss übrigens in dem Fluss auch etwas aufpassen, weil es dort Nilpferde und Krokodile gibt. Beim Spital selbst zwar meistens nicht, aber man musste trotzdem aufpassen.

Im Film hat Rhena ihren Vater kritisiert dass er nie zu Hause ist – später führt sie das gleiche Leben.

Leider ist Rhena jetzt gestorben. Aber ich glaube, dass sie bei der Vorbereitung des Films geholfen hat. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob die Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter und die heftige Kritik wirklich authentisch sind. In der Zeit, als ich sie kannte, war sie im Spital und hat das Labor geleitet, hat ihren Vater unterstützt und sich nie negativ über ihren Vater ausgelassen. In dieser Zeit habe ich sie sehr gut gekannt und sie hatte keinen Vorwurf gegenüber ihrem Vater geäußert.

Natürlich hat Rhena ihren Vater wenig gesehen, weil sie hier in Europa aufgewachsen ist, aber soweit ich sie kannte, hat sie ihren Vater immer unterstützt. Ein schweres Leben hatte auf jeden Fall Schweitzers Frau: Als sie Tuberkulose hatte, konnte sie ihrem Mann nicht mehr nach Lambaréné folgen, hat ihn aber immer unterstützt. Besonders während der Kriegsjahre hat sie in Amerika viele Menschen mobilisiert, um das Hospital zu finanzieren. So haben beide Frauen – seine Tochter und seine Ehefrau – Albert Schweitzer immer unterstützt.

War Rhena genauso stark wie ihr Vater?

Ja, sie war eine sehr starke Persönlichkeit. Das war eigentlich ganz lustig. Nach Schweitzers Tod war natürlich die Frage, ob wir das Spital erneuern sollen, denn Schweitzer hat immer gesagt: „macht Ihr das mal, ich kann das nicht mehr, ich bin zu alt.“ Aber die Vereine waren sehr konservativ und es hat sich lange hingezogen, erst 1980 ist das neue Hospital entstanden. Rhena hingegen war sehr progressiv, wollte schnell alles schnell erneuern und wir sollten das jetzt machen. Sie war in den ganzen Albert Schweitzer Vereinen eine der progressivsten und sehr offen für neue Initiativen.

Kritiker von Albert Schweitzer sagen immer, er war altmodisch und rückständig. Stimmt das?

In seinen letzten Jahren war das vielleicht so, aber Schweitzer war in seinen jungen Jahren genauso progressiv wie seine Tochter. Er war immer offen für neue Ideen und sehr kreativ. Er hat das Spital in afrikanischem Stil gestaltet, sonst wären die Patienten kaum gekommen. Und er hat erlaubt, dass die Familie mitkam, die haben dann auch ihre Patienten selbst gewaschen und ihnen Essen gebracht.

Bis in den Zweiten Weltkrieg war das ein sehr gutes Buschhospital. Nach dem Krieg wurde das natürlich alles älter, die Baracken hielten nicht Schritt mit der Entwicklung. Schweitzer wollte es nicht einfach neu anstreichen, weil es ihm – auch das typisch – darauf ankam, dass es funktioniert und nicht, dass es nur schön aussieht mit dem Beton und Glas. Es ging immer darum, ob etwas gut funktioniert – und es hat gut funktioniert. Ich war ja selbst in dem Außenspital und wir konnten dort gut arbeiten.

In Schweitzers letzten Jahren, da gab es Elektrizität nur in den Operationssälen und in den Gebäuden des Spitals, aber nicht in den Wohnzimmern und im Speisesaal. Er wollte Erneuerungen nur dort haben, wo sie nötig waren – er war sehr sparsam. Allgemein konnte man sehr gut mit Albert Schweitzer diskutieren und man konnte ihn auch von etwas Neuem überzeugen. Man musste halt mit guten Argumenten kommen, dann wurde das auch gemacht. Aber es stimmt, ich kann sagen, dass wir am Ende von Schweitzers Leben – er war halt ein alter Mann – einiges hätten schneller ändern können.

Dann scheint seine Beschreibung im Film als aufgeschlossener, sympathischer „Diktator“ gar nicht so falsch zu sein?

Nein, die ist richtig. Er war eine starke Persönlichkeit und ein kleiner Diktator – aber nicht im schlechten Sinne. Er konnte gut zuhören, man konnte mit ihm diskutieren und ihn dabei auch überzeugen.

Warum sollten sich junge Menschen, die Albert Schweizer nicht kennen, diesen Film anschauen?

Schweitzer war eine große Persönlichkeit, die auch heutzutage noch einiges zu sagen hat. Erstmal als Mensch, der vieles nicht nur gedacht, sondern auch in die Praxis umgesetzt hat. Wir erleben ja heute oft, dass Leute viel reden, das aber nicht in die Praxis umsetzen. Albert Schweitzer hat das eigentlich 100%ig gemacht. Auch seinen Aufruf, dass man an die Anderen denken und etwas tun soll, hat er selbst umgesetzt.

Zweitens seine Philosophie „Ehrfurcht vor dem Leben“, sie ist auch heute wichtig – in einer Zeit, in der uns bewusst wird, dass wir tatsächlich Ehrfurcht vor der gesamten Schöpfung haben sollen, weil wir sonst selbst zu Grunde gehen. Die ganze Umweltdiskussion, die wir jetzt haben, da passt Albert Schweitzer vollkommen hinein. Auch wenn man an Theologie interessiert ist, hat Schweitzer viel Interessantes zu sagen. Ich nenne vielleicht nur seine These: das Wichtigste bei Jesus ist, seinem Aufruf nachzufolgen und dem Nächsten einen Dienst zu erweisen.

Schweitzer hat sehr viele Ansätze, für die ihn auch die Jugend von heute noch als Vorbild nehmen kann.

Ist dafür ein Film notwendig?

Ja, der Film ist grade deshalb so wichtig, weil das Vermitteln einer starken Persönlichkeit durch ein starkes Medium geschehen muss – und das ist ein guter Film. Dieser Film hat wunderbare Bilder, ist nicht langweilig, dokumentiert Schweitzers Lebensart. Ich habe kaum Fehler oder Klischees darin gefunden. Er bringt eine starke Story und deshalb kann ich mir vorstellen, dass Menschen, die ihn nicht so kennen, sich vielleicht berufen fühlen, etwas mehr von Albert Schweitzer zu hören oder zu lesen. Davon gibt es eine Menge, er hat selbst schon 27 Bücher geschrieben.

War Schweitzer zu seiner Zeit wirklich der beliebteste Mensch der Welt?

Ja, aber das hatte auch seine Nachteile: Erst war Schweitzer bis zum Zweiten Weltkrieg nur bei den Freunden seines Hospitals bekannt. Er war öfters in Europa, um Orgelkonzerte zu geben und um Spenden zu sammeln, hat viele Vorträge gehalten und war so natürlich in bestimmten Kreisen bekannt, besonders in kirchlichen Kreisen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, nach dem Schrecken über diesen Krieg, wurde Schweitzer ein Symbol der Humanität. Viele Zeitungen und Magazine haben so über Schweitzer geschrieben, dadurch wurde er dann in der ganzen Welt bekannt.

Der Nachteil war: er war für einige Menschen fast wie ein Heiliger und man hat ihn zu viel herausgestellt, was natürlich andere Menschen wieder irritiert hat. In den späteren Jahren kamen viele Besucher und Journalisten nach Lambaréné und sahen immer noch das afrikanische Dorf ohne modern aussehendes Hospital. Die haben ihn dann kritisiert und geschrieben, dass es dort keine Hygiene gebe. Insofern ist es schön, dass jetzt – 40 Jahre nach seinem Tod – in dem Film diese Gegensätze von Lob und Kritik gezeigt werden.

So kann sich Jeder ein eigenes, besseres Urteil über ihn bilden. Schon allein dafür finde ich den Film sehr gelungen und kann ihn nur empfehlen.

Auch nach Ihrer Arbeit in Lambaréné sind Sie der Entwicklungshilfe treu geblieben – besonders der Lepra-Arbeit.

Ja, ich hatte eine sehr gute und schöne Zeit bei der DAHW. Mindestens eine halbe Million Menschen leidet noch an Lepra, zu meiner Zeit sogar noch viel mehr. Sie müssen versorgt werden genauso wie die Menschen, die Folgeerscheinungen von Lepra haben.

Die Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe ist eine der wenigen Organisationen, die sich darum bemüht. Deshalb wünsche ich mir, dass viele Menschen in Europa dafür spenden, so dass die Menschen in den armen Ländern Hilfe erhalten.

Mit der DAHW sind Sie auch nach Europa zurück gekommen. Haben Sie die Arbeit vor Ort vermisst?

Wenn man so lange in den Tropen ist, dann gewöhnt man sich ja an das dortige Leben. Deshalb ist die Rückkehr nach Europa nicht immer einfach. Meine Frau und ich haben das auch wegen unserer Kinder gemacht, aber es war nicht einfach.

Bei der Deutschen Lepra- und Tuberkulosehilfe habe ich einen Job gefunden, in dem ich beides machen konnte: Im Durchschnitt war ich 2-3 Monate pro Jahr in Afrika unterwegs, um die Projekte zu besuchen und dann die Arbeit hier im Büro in Würzburg. Also eine wunderbare Kombination, die die Integration in das Leben hier in Europa leichter macht. Inzwischen genieße ich aber auch meinen Ruhestand.